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Die Schattenseiten der libyschen Revolution

Die Menschen wollen ein Jahr nach dem "Tag des Zorns" feiern. In Tawergha fällt das schwer

Misrata-Milizionäre haben die kleine Stadt ausgelöscht, weil sie der Armee als Hauptquartier bei der Belagerung ihrer Stadt galt
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Die Hafenmetropole führt ein Eigenleben: eigene Gefängnisse, eigene Folterzentren. Hier wird der Hass gepflegt

Tripolis/Misrata

Zuckerwatte, Popcorn und riesige Luftkissenrutschen für die Kinder. Statt Gewehrschüssen knallen Feuerwerkskörper. Bis spät in die Nacht tanzen und singen die Menschen auf den Plätzen und Straßen Libyens. In friedlicher Eintracht feierten sie am Wochenende den ersten Jahrestag der Revolution: den "Tag des Zorns" vom 17. Februar 2011. Damals hatten landesweit Proteste gegen das Regime Muammar al-Gaddafis begonnen, das erst nach einem acht Monate langen Bürgerkrieg gestürzt werden konnte und mit dem Tod des Diktators endete.

Misstöne zum Jubeltag kamen wieder von einem Gaddafi-Sprössling: Saadi Gaddafi hatte aus dem Exil in Niger mit einem Aufstand gedroht. "Ich bin bereit, jeden Moment in die Volksrepublik zurückzukehren", meinte der ehemalige Fußballprofi. Die libyschen Sicherheitskräfte nahmen das immerhin so ernst, dass sie auf den Verbindungsstraßen zusätzliche Checkpoints einrichteten. In Tripolis verteilten Verkehrspolizisten und Milizionäre Flugblätter mit der Warnung: "Wir können den toten Mann (Muammar al-Gaddafi) nicht zurückbringen, dich aber zu ihm bringen." Eine klare Ansage, auf jede Art von Gewalt kompromisslos zu antworten.

Abdel Dschalil, der Vorsitzende des Nationalen Übergangsrats (NTC), nahm das Thema in seiner Fernsehansprache auf: "Wir haben alle Libyer mit offenen Armen aufgenommen, ob sie nun für oder gegen die Revolution waren. Aber diese Toleranz bedeutet nicht, dass wir unfähig sind, für Stabilität zu sorgen. Die Revolutionäre stehen bereit, jeder Attacke zu begegnen."

Das Jubiläum wäre für den NTC-Vorsitzenden eine gute Gelegenheit gewesen, die Probleme der Nachrevolutionszeit anzusprechen. Aber kein Wort über bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen Milizen oder Stämmen, die gerade in al-Kufra, tief im Südosten des Landes, vier Menschen das Leben gekostet haben. Kein Wort über die weiter grassierende Korruption. Von 16 000 Kriegsversehrten sind in Jordanien nur etwa zehn Prozent behandelt worden. Die Regierung hatte aber für alle bezahlt. Dschalil ermahnte auch nicht, sich endlich an das Fundament eines demokratischen Staates zu halten: an die Einhaltung der Menschenrechte. Folterungen und Misshandlungen von Gefangenen sind auch im neuen Libyen üblich. Aber die Schattenseiten der Revolution scheinen keine diskussionswürdigen Themen zu sein. Schon gar nicht im nationalen Fernsehen. Sie interessierten auch die Menschen nicht, die am Wochenende in libyschen Städten und Dörfern nur eins wollten: feiern und vergessen.

An einigen Orten Libyens ist das Vergessen unmöglich. In Tawergha zum Beispiel, einer Kleinstadt 250 Kilometer östlich von Tripolis gelegen: Herausgerissene Türen, zerbrochenes Mobiliar und ausgebrannte Autowracks liegen auf den Straßen. Statt Fenster klaffen große schwarze Löcher in den Häuserfassaden, das Mauerwerk ist zerschossen und ausgebombt. Ob Wohnblock, Polizeistation, Schule oder Krankenhaus - alle Gebäude sind unbewohnbar. Ein Tritt auf Glasscherben hallt laut durch die verlassenen Viertel. Tawergha ist heute eine Geisterstadt, in der nicht einmal mehr streunende Hunde oder Katzen zu Hause sind. Trümmer und Fragmente künden vom Leben der einstmals 28 000 Einwohner.

Dabei war die Stadt kein Schlachtfeld im Bürgerkrieg, in der sich Rebellen und Gaddafi-Truppen heftige Kämpfe geliefert hätten. Tawergha wurde nach dem offiziellen Ende der Revolution am 23. Oktober systematisch zerstört. Haus für Haus, Wohnung für Wohnung geplündert und angezündet. Die wenigen verbliebenen Bewohner wurden vertrieben - wenn man sie überhaupt am Leben ließ.

Die wütenden Brandschatzer, die noch heute immer mal wieder auf der Suche nach Brauchbarem zurückkehren, sind die Milizen aus Misrata, jener Hafenstadt, die im vergangenen Jahr drei Monate lang von Gaddafi-Truppen eingeschlossen und Tag und Nacht bombardiert worden war. Gaddafis Armee hatte damals das nur 50 Kilometer entfernte Tawergha als Hauptquartier gewählt. Dort wurden Soldaten rekrutiert, Vorstöße in das von Rebellen besetzte Misrata gestartet und Raketen abgeschossen. "Die Soldaten aus Tawergha haben die schrecklichsten Schandtaten verübt, Opfer grausam ermordet und Hunderte von Frauen unter dem Einfluss von Viagra vergewaltigt", berichten jene Libyer, die auf Seiten der Revolution stehen.

Der Vorwurf der Massenvergewaltigungen konnte allerdings von Menschenrechtsvereinigungen nicht bestätigt werden, weder von Amnesty International (ai), noch von Human Rights Watch (HRW) oder Médecins Sans Frontières (MFS). Die Kämpfer aus Misrata kümmerte das nicht: Tawergha bekam ihren Hass und ihre Rache zu spüren, um die Rückkehr der Bevölkerung - überwiegend Libyer aus dem Süden des Landes mit dunkler Hautfarbe - unmöglich zu machen. Der Hass der Misrata-Milizionäre verfolgt die Einwohner von Tawergha bis in die Hauptstadt: Anfang Februar töteten die Rachsüchtigen fünf Flüchtlinge bei einem Angriff auf ein Lager in Tripolis. Als die Insassen des Camps gegen den Anschlag protestierten, wurden auch sie auf offener Straße beschossen.

"Die Leute aus Tawergha haben bekommen, was sie verdienen", sagt ein Cafébesitzer in Misrata, unweit der Tripolis-Straße, in der ein Museum für die 1500 gefallenen Märtyrer der Hafenstadt eingerichtet ist. Auf den Einwand, dass in Tawergha nach internationalem Recht ein Kriegsverbrechen begangen wurde, lacht der Mann nur süffisant. Einer seiner Gäste schmunzelt ebenfalls schadenfroh und winkt mit der Hand abfällig ab. Eine weit verbreitete Einstellung, die bisher noch kein Offizieller Libyens überhaupt zur Sprache gebracht, geschweige denn angeprangert hätte. Wie soll so eine friedliche, demokratisch gesinnte Zivilgesellschaft wachsen? Im Juni schon sind die ersten freien Wahlen für eine Regierung geplant, die eine neue Verfassung ausarbeiten soll.

In Misrata, das sich zu einem Stadtstaat mit eigenen Gefängnissen und eigener Rechtsprechung entwickelt hat, sind die Bürger selbstbewusst und fühlen sich unantastbar. Denn es waren die Milizen dieser Stadt, die Sirte, die Geburtsstadt Gaddafis, eroberten und dabei den Diktator und seinen Sohn Muatassim fassten und mutmaßlich töteten. Fast eine Woche lang wurden die Leichen in einem Fleischkühlcontainer zur Schau gestellt. Aus ganz Libyen kamen Neugierige und standen stundenlang in der Schlange an, um die Trophäe eines schmutzigen Krieges zu begutachten: Den toten Diktator.

Die Politik der verbrannten Erde verfolgten die rund 250 Milizen Misratas nicht nur in Tawergha. Sie bombten auch Sirte völlig aus, bevor sie plünderten. Bani Walid, eine andere Hochburg des gestürzten Regimes, erlitt das gleiche Schicksal. Die Menschen in Misrata verlassen sich auf die Waffenmacht der Milizen, die nicht daran denken, dem Aufruf des NTC Folge zu leisten, ihre Waffen abzugeben. Mit der Waffe, so ihre Befürchtung, geben sie auch ihre Möglichkeit ab, sich im zukünftigen Staat Macht und Einfluss zu sichern.

Mit der Einhaltung der Menschenrechte nimmt man es dabei nicht so genau. Die medizinische Hilfsorganisation MFS stellte im Januar ihre Arbeit in der Hafenstadt ein, weil die Helfer oft gerufen wurden, um Folteropfer in einen gesundheitlichen Zustand zu versetzen, der es den Folterknechten erlaubte, sie weiter zu quälen. Die Folterungen haben System, die Häftlinge werden dafür aus dem Gefängnis in spezielle Verhörzentren gebracht. "Das ist vielleicht nicht besonders schön, aber sehr nützlich", erklärt ein junger Ingenieur, der im Öl-Emirat Bahrain bei einer Ölfirma arbeitet. Für die Revolutionsfeiern hat er sich Urlaub genommen und ist in seiner Heimatstadt Misrata zu Besuch. "Wie ich mir habe sagen lassen", fügt er wissend hinzu, "werden dort wichtige Erkenntnisse gewonnen. Ohne Folter würde das nicht gelingen."

Amnesty International berichtet, dass Folterungen und willkürliche Festnahmen in Libyen weit verbreitet sind. "Die Milizen in Libyen sind weitgehend außer Kontrolle und können völlig ungestraft machen, was sie wollen", heißt es im jüngsten ai-Bericht. Die Organisation konnte elf Internierungslager von verschiedenen Milizen besuchen. In zehn von ihnen berichteten Gefangene von Misshandlungen und wiesen Verletzungen auf. Insgesamt sollen seit September zwölf Häftlinge an den Folgen von Folterungen gestorben sein. Einer von ihnen war der Diplomat Omar Brebesh (62), von 2004 bis 2008 libyscher Botschafter in Frankreich.

In einem Internierungslager in Misrata konnte ein Amnesty-Delegierter Milizionäre dabei beobachten, wie sie einige Gefangene aus Tawergha schlugen und bedrohten, obwohl deren Freilassung von einem Richter angeordnet war. "Einer dieser Gefangenen kauerte weinend am Boden an der Wand, während er von Milizionären geschlagen wurde", berichtete der Beobachter von Amnesty International. Er gab zu Protokoll, dass die Milizionäre ihm versichert hätten: "Die Leute von Tawergha kommen nicht frei, eher bringen wir sie um."

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