Die Waffenruhe zwischen der Hamas und Israel hält –
aber die Palästinenser schmuggeln weiter Waffen und Benzin. Alfred
Hackensberger hat das unterirdische Tunnelsystem besucht Von Alfred Hackensberger
Die israelischen Luftschläge konnten den illegalen Kanälen offenbar nicht viel anhaben
Sie
schwenken Fahnen und singen patriotische Lieder von der Befreiung
Palästinas. Nach fast zehn Stunden Busfahrt und mehr als acht Stunden
Wartezeit am ägyptischen Grenzübergang Rafah haben die rund 300
überwiegend jungen Leute noch erstaunlich viel Elan. "Wir sind alle aus
Kairo und wollen nach Gaza", sagt Erkan, einer der Wartenden, mit
deutlich österreichischem Akzent. Der 25-Jährige hat türkische Wurzeln
und ist in Wien aufgewachsen, lebt aber seit sieben Jahren in Kairo. "Ich studiere dort
den Aufruf zum Islam", erklärt er stolz und zupft sich dabei am
zotteligen Vollbart, der seine religiöse Gesinnung deutlich
unterstreicht. Er, als anerkannter Aktivist für die Rechte der
Palästinenser, könne nach Gaza einreisen. Ob aber auch sein Freund, der
vor dem Torgitter steht, und auch der Rest der Gruppe passieren dürfen,
sei völlig ungewiss. Als die Zeit fortschreitet und noch immer nichts
passiert, stellt sich langsam Enttäuschung ein bei den verhinderten
Revolutionären. Alle hier hatten sich das anders vorgestellt.
Nach dem Waffenstillstand zwischen Israel und der Hamas hoffen die Palästinenser, der ägyptische Grenzübergang
werde geöffnet. Tatsächlich war "die Erleichterung des Personen- und
Warenverkehrs" ein Bestandteil des ausgehandelten Abkommens zwischen dem
jüdischen Staat und der radikal-islamischen Palästinenserorganisation.
Aber bisher ist alles noch beim Alten geblieben und der Reiseverkehr
zwischen beiden Seiten streng reglementiert. Am Wochenende kamen
allerdings Berichte auf, die Blockade sei insofern gelockert, als dass
nun Fischer aus Gaza bis zu sechs Meilen aufs Meer hinausfahren dürften.
Urheber war das Büro von Ministerpräsident Ismail Hanijeh, Israel
wollte sich nicht dazu äußern.
"Wenn
Sie wollen, gehen wir durch einen der Tunnel", bietet Same, ein junger
Bewohner aus Gaza, an. "Keine zehn Minuten von hier. Das geht viel
schneller und bequemer", fügt er hinzu. "Nur 500 Meter unter der Erde,
und man kann sogar aufrecht gehen." Fast 200 Mal hatte die israelische
Luftwaffe die Tunnel, die unter der 15 Kilometer langen Grenze nach Ägypten führen, bombardiert. Unterirdisch werden nicht nur Lebensmittel oder
Benzin nach Gaza geschmuggelt, sondern auch die Raketen, mit denen die
Kassem- und Al-Kuds-Brigaden des Islamischen Dschihads Israel
beschießen.
"Es gibt noch
viele Tunnel, die funktionieren", sagt Ahmed, der mit fünf weiteren
Kollegen dabei ist, Schäden zu reparieren. Er deutet mit der Hand nach
hinten über ein weites, offenes Gelände, das von Bombenkratern übersät
ist. Abends sieht man dort einige Lichter an Eingängen brennen. Über
einen der nicht zerstörten Tunnel wären wohl auch die drei Raketen
eingeschmuggelt worden, die die ägyptischen Behörden am vergangenen
Donnerstag im Sinai, nur 15 Kilometer von der Grenze zu Gaza,
konfiszierten.
"Wie hoch
der Schaden bei uns ist, wissen wir noch nicht", erklärt Tunnelarbeiter
Ahmed, der vermutlich anders heißt. Man müsse sich erst vorarbeiten.
Gerade wird an einer elektrischen Seilwinde ein Karren mit Erde aus der
langen Röhre gezogen, entladen und leer wieder zurückgelassen. In nur
einem Tag haben Ahmed und seine Helfer das große Dach auf Metallgerüsten
über ihrer Arbeitsstätte wieder aufgebaut, sowie den Generator und die
Seilwinde in Gang gebracht.
"Alles
war komplett zerstört", meint Mohammed, der die Seilwinde bedient. "Wir
müssen uns beeilen, um alles wieder in Schuss zu bekommen." Zeit
bedeutet hier Geld, solange die Grenzen nicht geöffnet sind. Zwischen 35
und 50 Euro verdient hier jeder, wenn der Warenverkehr durch ihren 800
Meter langen Tunnel läuft. In der Röhre selbst kommt man bei
feuchtheißer, modriger Luft sofort ins Schwitzen. Alles ist
professionell mit Holzplanken ausgelegt und mit elektrischen Lampen
beleuchtet. Man kann aber nur in gebückter Haltung in die Tiefe
marschieren.
Unterirdisch
werden in Gaza nicht nur Geschäfte gemacht. Die militärische Struktur
der Hamas liegt ebenfalls unter der Erde. Es soll ein ausgeklügeltes
Tunnelsystem sein, das sich unter dem gesamten Gazastreifen hinzieht.
Inklusive Bunker, Abschussrampen und Munitionsdepots. Die Bombenangriffe
Israels haben nur einen Teil davon zerstört. Noch am letzten Tag vor
Inkrafttreten des Waffenstillstands wurden weit über 150 Raketen auf
Israel abgeschossen. So viele wie an den meisten Tagen zuvor nicht.
"Dieses Tunnelsystem ist hier ein offenes Geheimnis", sagt Hassan Jaber,
ein Journalist aus Gaza. Aber die Details kenne niemand, das sei ein
Militärgeheimnis der Hamas, die auch die Identität ihrer Kämpfer unter
Verschluss hält. Erst wenn sie sterben, werden ihre Namen
veröffentlicht.
"Im
Winter, wenn es stark regnet, kann es passieren, dass eine Straße
absackt", sagt Jaber. "Dann weiß man – hier ist ein Tunnel verlaufen."
Ein Mann, der seinen Namen nicht nennen will, sagt, er war während der
Kriegswoche die ganze Zeit in diesem Bunkersystem unter der Erde. Als
Angehöriger einer salafistischen Gruppe saß er im Gefängnis, wurde aber
von der Hamas entlassen, um zu helfen. Militante Salafisten sind bekannt
für ihren Hass auf Israel. In Gaza aber hat die Hamas keine vollkommene
Kontrolle über sie. Diese salafistischen Organisationen sind für den
bedingungslosen Dschihad gegen Israel und feuern in Eigeninitiative
Raketen ab.
Die
Zerstörungen im Gazastreifen halten sich bei Augenschein, anders als
nach Medienberichten erwartet, in Grenzen. Die israelische Luftwaffe hat
1200 Angriffe geflogen, doppelt so viele wie bei der Offensive von
2008/9, aber die Schäden sind weitaus geringer als damals. Viele Bomben
fielen außerhalb bewohnter Zonen, am Strand oder auf Feldern, wo man
Raketenabschussrampen oder Bunker vermutete. Am Strand von Gaza-Stadt
sind noch Metallteile in einem Bombenkrater zu sehen. Das israelische
Militär ist offenbar sehr gezielt vorgegangen. Trotzdem sind von den
über 150 Toten in Gaza weit über die Hälfte Zivilisten, so behauptet es
jedenfalls die Hamas.
Im
Stadtviertel von al-Nasseb in Gaza-Stadt findet die Familie al-Dalu
nach dem Waffenstillstand Zeit, Beerdigung zu feiern. Sie verlor bei
einem Bombenangriff eines F-16-Kampfjets zehn ihrer Mitglieder, vier
Kinder und sechs Frauen. Hunderte von Männern sind gekommen, um ihr
Beileid zu bekunden. Man sitzt unter einem großen Plastikdach, auf einen
Banner sind die Gesichter der getöteten Kinder abgedruckt, aus
Lautsprechern dröhnen nationale Lieder über den Befreiungskampf. Dazu
wehen grüne Flaggen der Hamas. "Ein schreckliches Massaker", sagt ein
Cousin der getöteten Kinder. "Aber wir haben mit dem Waffenstillstand
einen Sieg errungen, einen moralischen Sieg."
Nicht
anders sehen es fünf junge Männer im "Tal-al-Omar-Café", das gleich um
die Ecke liegt. "Kein Preis ist zu hoch im Kampf für unsere Rechte",
meint Imad, ein 28-jähriger Schreiner, der an einer Wasserpfeife
nuckelt. "Israel wird niemals den Waffenstillstand einhalten", glaubt
Mossab, ein Informatikstudent. "Hat Israel nicht sofort am Freitag einen
Palästinenser in Gaza erschossen", fragt der 23-Jährige aufgebracht. In
unmittelbarer Nähe seines Hauses war eine Rakete eingeschlagen. Alle
Fenster seien zersplittert und die Fassade beschädigt worden. "Wie es
meinem vierjährigen Bruder ging, ist nicht in Worte zu fassen", erzählt
er nachdrücklich. "Wenn wir Erwachsene uns schon zu Tode fürchten, wie
soll es dann den Kindern gehen." Alle schweigen einen Moment. "Israel
versteht nur die Sprache der Gewalt", behauptet Dib, der junge Besitzer
des Cafés. "Wenn wir keine Raketen nach Tel Aviv geschossen hätten, gäbe es jetzt keinen Frieden." Alle sind überzeugt,
mit dem Waffenstillstand habe Israel seine Niederlage eingestanden. Sieg
ist für sie gleichbedeutend mit der Aufhebung der Blockade Gazas, von
der man sich ein neues, besseres Leben verspricht. Nur bisher gibt es
noch keine Anzeichen für eine komplette Öffnung der Grenzübergänge.
"Wenn Israel sich nicht an die Abmachungen hält, dann fliegen eben
wieder Raketen", fügt Imad, der Schreiner, hinzu. Alle am Tisch nicken.
"Nun
gut, es werden als Reaktion erneut Bomben über unseren Köpfe fallen",
räumt Dib, der Café-Besitzer, ein. "Trotzdem versichere ich Ihnen, wir
werden den Kampf gegen Israel nie aufgeben, solange wir nicht
gleichberechtigt sind und nicht Jerusalem die Hauptstadt unseres Staates ist. Und wenn die Kinder meiner Kinder
noch dafür kämpfen werden." Es ist ein Plädoyer für die Gewalt, das man
in Gaza überall zu hören bekommt und das seit Jahrzehnten den
Nahost-Konflikt bestimmt. Über Optionen für einen längerfristigen
Frieden wird hier nicht nachgedacht. Zumindest nicht laut.
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