Syriens kurdische Rebellen wollen mit neuen Dokumenten
erstmals das Innenleben der Al-Nusra-Islamisten beschreiben können.
Demnach werden die Al-Qaida-Verbündeten von der Türkei unterstützt. Von Peter Steinbach, Amuda
"Die Islamisten haben
sich dort hinten im Wald verschanzt", sagt Kommandant Schorwasch. Mit
einem Funkgerät in der Hand zeigt er auf einige Baumwipfel am Rande von
Alouk, einem syrischen Dorf unweit der türkischen Grenze. "Sie sind
keine 700 Meter von uns entfernt." Plötzlich knallt ein Schuss, und das
unverwechselbare Sausen einer Kugel aus einem Scharfschützengewehr ist
zu hören. "Sie sind nervös", meint Schorwasch schmunzelnd. "Besser, wir
gehen in Deckung."
Der 25-Jährige
ist an diesem Frontabschnitt der Verantwortliche der kurdischen
Volksverteidigungseinheiten (YPG). Nach dem Abzug der Regimetruppen von Präsident Baschar al-Assad
haben diese Milizen kurzerhand den Schutz der Kurdengebiete übernommen.
"Zum Glück", erklärt Schorwasch, nun hinter einer hohen Mauer stehend.
"Sonst wären wir längst von den Islamisten überrollt worden, und es
hätte ein Blutbad gegeben."
Mit "Islamisten"
sind vor allen Dingen die beiden Al-Qaida-Ableger Nusra-Front und
Islamischer Staat im Irak und der Levante (Isil) gemeint. "Aber auch
einige Brigaden der als moderat geltenden Freien Syrischen Armee kämpfen
gegen uns", erklärt der YPG-Kommandant.
Die Islamisten
und ihre Verbündeten versuchen seit etwa sechs Monaten gezielt, in die
Kurdengebiete zwischen Ras al-Ain und Kamischli im Nordosten Syriens
einzudringen. Die Region entlang der Grenzen zur Türkei und dem Irak
liefert 60 Prozent der Ölproduktion Syriens und besitzt reiche
Gasvorkommen. In Kriegszeiten ist sie von enormer strategischer
Bedeutung. Die Bewohner sind nun von der Außenwelt abgeschnitten,
eingeklemmt zwischen den geschlossenen Außengrenzen im Norden und den
Al-Qaida-Verbündeten im Süden. Nur Schmuggelware dringt bisweilen zu
ihnen.
"Sie wollten keinen Schritt zurückweichen"
"Wir haben die
Islamisten überall geschlagen", erzählt Schorwasch zufrieden. "Sie
mussten sich an allen Fronten zurückziehen und versuchen nun, auf dem
Land Stützpunkte zu errichten." In Alouk seien die Islamisten mitten in
der Nacht mit 400 Kämpfern eingedrungen. "Wir brauchten eineinhalb Tage,
bis wir das Dorf zurückerobern konnten", sagt der YPG-Kommandant. Einer
der umstehenden Soldaten, der schon 15 solcher Kämpfe hinter sich hat,
spricht von "der härtesten Schlacht", die er miterlebt habe. "Sie
wollten keinen Schritt zurückweichen."
In der Moschee
des Dorfes sind die Wände voller Einschusslöcher. Die Eingangstür ist
durchlöchert, Stücke der bronzefarbenen Kanzel des Imam wurden von den
Projektilen abgesprengt. Die Vorhänge hängen in Fetzen, der Boden ist
übersät mit Patronenhülsen, dazwischen liegen überall verstreut leere
Thunfischdosen und Schmelzkäsepackungen. Man betritt die Moschee durch
ein Loch in der Wand, das mit einem Vorschlaghammer geschlagen wurde. Er
liegt mit abgebrochenem Stiel in einer Ecke.
Insgesamt seien
39 Gegner getötet worden, erzählt Kommandant Schorwasch. Die YPG habe
nur sechs Mann verloren. Das Opferverhältnis falle bei anderen Gefechten
ähnlich aus. Die YPG wird wie eine reguläre Armee geführt. Viele ihrer
Soldaten sind erfahrene Kämpfer und waren für die kurdische Sache im
Iran, dem Irak und auch in der Türkei im Einsatz. Es gibt genügend Geld,
um Waffen zu kaufen. Zum Teil soll es aus dem Drogenhandel stammen. In
vielen deutschen Großstädten kontrollieren Kurden den Heroinhandel.
Im Garten des
Bauernhofs sieht man vier frische Erdhügel. Verwesungsgeruch liegt in
der Luft. Die Leichen der Islamisten wurden eilig verscharrt. "Angeblich
duften Märtyrer wie Rosen", sagt Kommandant Schorwasch grinsend.
"Riechen Sie es? Mit Rosen hat das nichts zu tun."
"Alle Islamisten haben einen Schlüssel bei sich"
Der Glaube
radikaler Muslime ist den Kurden völlig fremd, obwohl die meisten von
ihnen Sunniten sind. Ihre Traditionen sind in Glaubensdingen liberal.
Hier trinkt man auch Alkohol, selbst im Fastenmonat Ramadan. Der
örtliche Mullah Farkat Scheichu ist natürlich gar nicht glücklich über
den Alkoholkonsum, "aber jeder kann tun, was er gerne möchte", sagt er.
Der Scheich tritt für eine säkulare Gesellschaft ein. "In Syrien gibt es
verschiedene Religionsgemeinschaften. Es kann keinen islamischen Staat
geben, der für alle festlegt, wie sie zu leben haben."
In den Augen
der Nusra-Front würden solche Meinungen den Geistlichen zu einem Ketzer
machen, der mit dem Tod bestraft gehört. Mindestens 20 Menschen sollen
die Islamisten hier schon mit dem Messer geköpft haben, kurdische
Kämpfer, aber auch Jesiden, Anhänger einer eigenständigen antiken
Religion, die im Kurdengebiet ansässig sind.
"Alle
Islamisten haben einen Schlüssel und einen Löffel bei sich", erzählt der
kurdische Journalist Taha Khalil, der lange Jahre als Autor in der
Schweiz und Deutschland lebte. Heute leitet er eine Gesprächsrunde bei
Rohani TV, einem Sender, der den Kampf der YPG propagandistisch
unterstützt. "Den Schlüssel brauchen sie", so fährt Khalil fort, "um
nach dem Märtyrertod das Tor zum Paradies zu öffnen."
Der Löffel sei
für das Abendmahl mit dem Propheten Mohammed. Ein gefangener Islamist
sei hier kürzlich zum Tode verurteilt worden, weil er acht Menschen,
darunter drei Mädchen, den Kopf abgeschnitten haben soll. Als letzten
Wunsch habe er um ein Glas Wasser gebeten und darin geheimnisvoll mit
seinem Himmelsschlüssel gerührt. Nachdem er es in einem Zug ausgetrunken
hatte, wollte er davongehen – in der Überzeugung, der Trunk habe ihn
unsichtbar gemacht. "Diese Leute glauben wirklich, was man ihnen
erzählt", meint Khalil. "Und das macht sie so gefährlich."
Liste ausländischer Kämpfer erstmals einsehbar
Für ihn ist es
völlig unbegreiflich, wie die Extremisten zur treibenden Kraft innerhalb
der syrischen Rebellen werden konnten. Ende September vereinigten sich
13 führende Gruppen zu einem neuen Block, der damit die stärkste
Militärmacht innerhalb der Opposition repräsentiert. Die Mitglieder sind
überwiegend islamistische Fraktionen, darunter die Nusra-Front und
Achrar al-Scham, aber auch die bislang als moderat eingestufte Liwa
Tawhid aus Aleppo. Die Syrische Nationale Koalition (SNC) wird als
Regierung abgelehnt und die Scharia zur einzigen Quelle des Rechts
erklärt.
So irrational
die Islamisten in vielen Fällen wirken mögen, bei ihrer Buchführung sind
sie gewissenhaft. Die YPG konnte in einem der Lager der Nusra-Front
bisher einmalige Dokumente erbeuten. Über ausländische Rekruten in den
Reihen des Al-Qaida-Ablegers aus dem Irak wurde bereits viel berichtet.
Nun ist zum
ersten Mal eine Liste ausländischer Kämpfer aus dem Originalbestand der
Miliz einzusehen: Von April bis Juli 2013 waren es danach 180 junge
Männer aus Ländern wie dem Irak, Tunesien, Saudi-Arabien, Marokko oder
Pakistan, die in Syrien in den Heiligen Krieg zogen. Die Liste ist keine
Gesamtaufstellung aller Ausländer bei der Nusra-Front, sondern zeigt
nur die Rekruten einer einzigen Filiale der Terrorgruppe. Insgesamt gibt
es Tausende von ausländischen Kämpfern bei al-Nusra. Aber aus dieser
Liste ist abzulesen, wer da kämpft. Denn darin sind auch persönliche
Details festgehalten.
Da ist etwa Abu
Khalid aus Marokko, der von Beruf Bäcker ist, "aber kein Brot mehr
backen, sondern kämpfen will". Er sei ledig, von "guter Gesundheit", und
seine finanzielle Situation wird als "schlecht" beschrieben. Im Juli
kam Abu Aleis aus Tunesien, ein Elektromechaniker, ebenfalls Single,
aber finanziell "gut" gestellt. Es ist ist eine lange, traurige Liste
von jungen Menschen, die alle nach Syrien gekommen sind, bereit, als
Märtyrer zu sterben.
"Die Türkei unterstützt die Islamisten"
Interessant
sind auch Reisepässe, die Männer der YPG bei toten Kämpfern der
Nusra-Front und in deren Basen gefunden haben wollen. Hier bekommen die
Namen Gesichter und Geschichten. Rabar Tarik Maaraf und Sarkaui Mohammed
Sair stammen beide aus Sulaimania, einer Stadt im kurdischen Teil des
Irak. Beide waren gerade 18 geworden. Freunde vielleicht, die
beschlossen haben, die Welt mit Waffengewalt zu verändern. Gemeinsam
reisten sie am 24. Mai nach Syrien ein. In ihren Pässen steht der
Ausreisestempel der Türkei. "Die lassen alle rein", sagt YPG-Sprecher
Khalil. "Die Türkei unterstützt die Islamisten, weil sie gegen uns
Kurden Krieg führen."
Seit vier
Jahrzehnten kämpft die Kurdische Arbeiterpartei (PKK) gegen den
türkischen Staat für das Selbstbestimmungsrecht der Kurden. Heute gibt
es zwar Friedensverhandlungen, aber Ankara scheint den Kurden auch heute
nicht mit allen Rechten als ethnische Minderheit anerkennen zu wollen.
"Wir kämpfen
für die ganze Welt", behauptet Abedselam Ahmed vom Westkurdistanrat in
Kamischli. "Alle wollen al-Qaida in Syrien loswerden, aber wir sind die
Einzigen, die auch wirklich gegen die Terroristen kämpfen." An eine
Unterstützung durch die USA oder Europa sei jedoch nicht zu denken,
ergänzt sein Ratskollege Hakam Challo. "Die Türkei lässt nicht zu, dass
der kurdische Erzfeind unterstützt wird", wirft Abdelkarim Omar, der
Dritte im Bunde, ein. "Obwohl wir die einzige Gruppe der syrischen
Opposition sind, die echte Demokratie in einem säkularen Staat will",
meldet sich Ahmed wieder zu Wort.
Die drei Männer
sind Mitglieder der Partei der Demokratischen Union (PYD), dem
politischen Arm der Miliz YPG. Ein großes Foto des türkischen
Kurdenführers Abdullah Öcalan hängt in den Büroräumen der PYD. Es lässt
keinen Zweifel an der ideologischen Ausrichtung dieser syrischen Partei.
"Wir wollen unsere Bevölkerung schützen"
In Kamischli
besitzen Regierungstruppen Assads noch einige Kasernen und kontrollieren
den Flughafen. "Wir machen keine gemeinsame Sache mit dem Regime, wie
manche behaupten mögen", erklärt der Ratsvorsitzender Ahmed. "Wir wollen
unsere Bevölkerung schützen und die Zerstörung unserer Stadt
verhindern." Die Soldaten der syrischen Armee würden hier nur geduldet.
Wenn man hier unterwegs ist, dann hat man bisweilen den Eindruck, dass
es wirklich so ist: Etwa an einem Checkpoint der YPG, wo sich ein
syrischer Armeeoffizier bei den wachhabenden Kurdenkämpfern über den
Verkehrsstau beschwert.
Die jungen
Milizionäre lachen ihn einfach aus. Verärgert steigt der Offizier wieder
zu seinen Kameraden in den Geländewagen und braust davon. "Die können
gar nichts tun", kommentiert ein YPG-Mann an der Straßensperre und winkt
verächtlich ab.
Aber auch unter
den Kurden gibt es Antipathien und viel Misstrauen. "Das sind Wölfe im
Schafspelz", behauptet Hasan Salih von der Kurdischen Einheitspartei
(KUP). Der 66-Jährige meint damit die YPG und ihre Politfunktionäre.
"Für mich haben sie einen geheimen Pakt mit dem Regime", erklärt Salih,
der 2003 die erste Demonstration gegen das Assad-Regime organisierte und
mehrfach im Gefängnis saß. "Sie geben sich demokratisch, haben aber an
Mitbestimmung kein Interesse."
Als es im Juli
in Amuda Proteste gegen willkürliche Verhaftungen durch die YPG gab,
hätten die Milizionäre sofort geschossen. "Drei Menschen mussten
sterben, und etliche wurden verletzt", berichtet Salih in seinem dunklen
Büro im Souterrain eines Wohnhauses in Kamischli. "Da wir keine
Diktatur durch eine andere ersetzt haben wollen", führt der
Parteivorsitzende aus, "sind wir dem SNC in der Türkei beigetreten" –
also dem syrischen Oppositionsrat, dem auch die anderen Rebellen
angehörten. Die YPG war nicht begeistert, das wisse er, aber eine
kurdische Vertretung innerhalb der neuen syrischen Gegenregierung sei
notwendig.
Salih kann sich
nur schwer durchringen, der YPG etwas Positives abzugewinnen. "Aber
angesichts der islamistischen Bedrohung bewaffnen auch wir uns", gibt
der ältere Herr zu. "Was die YPG leistet, können wir trotzdem nicht."
Bisher ist es den kurdischen Milizen gelungen, die radikalen Islamisten
abzuwehren. Die Frage ist nur, ob sie auch weiter standhalten können,
nachdem sich die Islamisten zu dem neuen Bündnis zusammengeschlossen
haben. Für Syriens Kurden geht es um die Existenz.
Kommentare