Tangers Mythos als Ort der Sünde verblasst - weil die marokkanische Stadt einen ökonomischen Kraftakt vollzieht. König Mohammed bekämpft so religiöse Radikalisierung und soziale Rebellion. Nicht alle sehen die Entwicklung positiv.
Von Alfred Hackensberger
Von Alfred Hackensberger
Sie sehen gespenstisch aus, wie sie langsam auf dem dunkelblauen Wasser des Mittelmeers durch den Morgendunst gleiten. Riesige Containerschiffe, turmhoch mit standardisierten, quaderförmigen Metallbehältern beladen. Ihr Ziel: „Tanger Méditerranée“ an der marokkanischen Küste, der zweitgrößte Hafen Afrikas. Tanger Med, wie der Hafen kurz genannt wird, ist ein Ort der Superlative.
Im vergangenen Jahr wurden dort 5,3 Millionen Tonnen an Gütern abgefertigt. Die Fähren transportierten zwischen Afrika und Europa 2,8 Millionen Passagiere. Dazu kamen 430.000 Fahrzeuge, sechs Millionen Tonnen Gas und Erdöl. Und jedes Jahr wird es mehr. Die im Juli 2007 in Betrieb genommenen Anlagen mussten bereits um „Tanger Med II“ erweitert werden. Ein dritter Teil ist in Planung. Bald will man die wichtigste Anlegestelle des afrikanischen Kontinents sein.
„Niemand hat so etwas in Marokko für möglich gehalten“, sagt Rachid Taferssiti, Präsident des Vereins Al Boughaz, der das historische Erbe der Stadt Tanger betreut, die rund 40 Kilometer vom Hafen entfernt liegt. „Früher hat es Monate gedauert, einen Bürgersteig zu reparieren, und nun das.“ Marokko ist im Eiltempo dabei, einen Masterplan in die Tat umzusetzen. Er soll das schwach entwickelte Land für das 21. Jahrhundert fit machen. „Tanger Med“ ist das Kernstück dieses ökonomischen Kraftakts.
Der wirtschaftliche Aufbruch verhinderte die Revolution
Initiator des Plans ist König Mohammed VI. Der 54-jährige Monarch will Armut und Arbeitslosigkeit bekämpfen, die besonders junge Menschen betreffen. Es sind die typischen Probleme, die alle Länder Nordafrikas plagen – der Nährboden für religiöse Radikalisierung und soziale Rebellion.
Bislang scheint in der Region allein Marokko die Zeichen der Zeit erkannt zu haben. Was das Königreich in den vergangenen zehn Jahren vollbrachte, ist ein Wirtschaftswunder. Deshalb wohl wurde das Land auch nicht vom Arabischen Frühling erschüttert. Mohammed VI. hatte 2011 zarte politische Reformen in Richtung mehr Demokratie eingeleitet. Aber es war die wirtschaftliche Aufbruchstimmung, die einer Revolution die Luft raubte, bevor sie noch begonnen hatte. „Zum ersten Mal wird wirklich etwas getan, um unser Leben zu verbessern“, sagt der Taxifahrer Abdelatif aus Tanger. „Warum sollten wir dann alles zerstören.“ Er verweist auf das Chaos in Libyen, die Dauerkrise in Tunesien und auf den ägyptischen Diktator Abdel Fattah al-Sisi.
Trotzdem ist Marokkos Weg in die Zukunft noch lang und beschwerlich. Weiter auf WELT
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