Das tunesische Regime ist gestürzt. Und trotzdem flüchten Tausende von TunesierInnen mit dem Boot Richtung Italien. Weshalb? Auf der Suche nach Antworten in der Küstenstadt Sfax.
Von der Hauptstrasse in Habib, einem Vorort von Sfax, führt der Weg irgendwann rechts auf eine holprige Piste, entlang einem Abwasserkanal über Müllreste, Metallteile und Plastiktüten, die der Wind vor sich hertreibt, bis zum Bahndamm einer stillgelegten Bahnlinie. Vorne am Wasser ragt eine Müllhalde in die Höhe.
Nisar bekommt grosse Augen voller Hoffnung, wenn er mit dem Finger dorthin zeigt. Als würde das Glück dort drüben im Sand vergraben liegen. «Hier verstecken sie sich nachts im Schilf, bevor sie an Bord gehen», sagt der 23-Jährige. Er trägt einen Trainingsanzug des englischen Fussballklubs Chelsea. «Manchmal müssen sie zum Boot schwimmen. Dann wird vorher kräftig Alkohol getrunken, um das eiskalte Wasser nicht zu spüren», sagt er lachend. Wenig später startet das Motorboot dann jeweils Richtung Italien. Ob es dort ankommt, hängt vom Wetter und dem Geschick des Steuermanns ab.
Im Süden kostets mehr
Bisher hat Nisar nur andere für die Fahrt vermittelt. Nun will er endlich selber gehen, sobald das Wetter stimmt, und das könnte schon sehr bald sein. «Vielleicht schon heute Nacht», meint er hoffnungsvoll. «In Tunesien hält mich nichts zurück. Es gibt keine Arbeit, keine Zukunft. Daran ändert auch die neue Regierung nichts.» Nisar ist ausgebildeter Mechaniker. Doch er habe in den letzten vier Jahren keine feste Arbeit gefunden.
Die 1000 Dinar, umgerechnet 670 Franken, die Nisar für die Überfahrt bezahlen müsste, hat er nicht. Der Chelsea-Fan will als «Joker» auf ein Boot kommen. Als kostenloser Passagier. Dafür muss er drei, vier Passagiere anheuern. Und das hat er nun gemacht. Doch den Versprechungen der Organisatoren traut er nicht. «Einige sind Kriminelle, die im Gefängnis sassen, andere Fischer, die ihre Chance wittern und selbst ernannte Businessleute.» Notfalls werde er sein Recht auf einen Platz mit dem Messer erkämpfen, sagt der 23-Jährige.
Sfax liegt gut 330 Kilometer südlich von Tunis, und ist mit 340 000 EinwohnerInnen die zweitgrösste Stadt des Landes. Täglich kommen hier neue Menschen an, die auswandern wollen. Überall am Strand streifen Gestalten umher, die nach Kontakten suchen. Der Tarif von 1000 Dinar ist günstig. Weiter unten im Süden, bei Gabes und Sarsis, kostet ein Platz fast das Doppelte.
Von dort fuhren die meisten der rund 6000 TunesierInnen los, die letzte Woche auf den lampedusischen Inseln vor Sizilien landeten. Eine Massenankunft, die den italienischen Hilfsorganisationen ein logistisches Chaos bescherte. Aber es ist nicht nur der niedrige Tarif, der die Fluchtwilligen nach Sfax bringt: Die tunesische Küstenwache hat ihre Patrouillen in den letzten Tagen drastisch verstärkt.
Letzte Woche hatten die Behörden die Dinge einfach laufen lassen. «Die Polizei und das Militär waren quasi nicht existent», erzählt Essedine Saidi, der sich einige Tage in Sarsis aufgehalten hatte, um den Cousin seiner Frau von der Überfahrt abzuhalten. «Die Polizei sass in der Wache und hat zugesehen, wie die jungen Leute mit einem Boot nach dem anderen in See stachen. Wie an einem Busbahnhof. Nächster Halt Italien!» Saidi, Vater von zwei Kindern, versuchte einige der jungen Männer von der gefährlichen Reise, 120 Kilometer quer übers Mittelmeer, abzubringen. «Sie haben Träume im Kopf. Glauben, bald mit einem neuen Auto und viel Geld aus Europa zurückzukehren.»
Saidi fand den Cousin seiner Frau nur noch tot. Der Verwandte war einer der fünf Passagiere, die bei einer Kollision mit einem Schiff der Küstenwache ums Leben kamen.
«Die gleichen Diebe wie vorher»
Im Café Cactus, in Habib, stellt Nisar seine fünf Freunde vor. Aufgeregt sitzen sie an einem runden Tisch. Sie haben alle ihr Ticket nach Italien bereits gebucht. Revolution hin oder her. Walid verdient mit seiner Arbeit bei einer Erdölfirma monatlich umgerechnet 450 Franken. «Wir haben kein Vertrauen in die neue Regierung. Das sind die gleichen Diebe wie vorher.»
Die neue Generalamnestie für die politischen Häftlinge in seinem Land interessiert Walid ebenso wenig wie der Zustand des ehemaligen Diktators Zine al-Abidine Ben Ali, der in einem Krankenhaus in Saudi-Arabien im Koma liegen soll. Für Walid bedeutet die neu gewonnene Freiheit nur eines: endlich nach Europa auswandern. Unter Ben Ali war das fast unmöglich. Die Küsten wurden streng bewacht, Auswanderungsversuche mit bis zu fünf Jahren Gefängnis bestraft.
«Wir wissen, dass Europa kein Paradies ist», platzt Haytam heraus. «Aber wir müssen unsere Chance nutzen.» Der 25-jährige Universitätsabsolvent ist seit drei Jahren ohne Arbeit. Erst vergangene Woche habe er sich bei der Polizei beworben; nur mit einem saftigen Schmiergeld hätte er jedoch eine Chance gehabt. Beim Stichwort «Polizei» berichtet Mohammed erzürnt, dass Beamte ihn am Donnerstag auf der Strasse geschlagen hätten, weil er seinen Personalausweis zu Hause vergessen hatte.
Wenn es genügend Arbeit, höhere Löhne, keine Korruption und keine Polizeiübergriffe mehr gäbe, dann würden sie wahrscheinlich in ihrer Heimat bleiben. Aber daran will keiner glauben. «Bis dahin wird es länger als eine Ewigkeit dauern», sagt der 26-jährige Mohammed spöttisch.
Als die sechs jungen Leute aufbrechen, ist die Stimmung euphorisch.
WOZ vom 24.02.2011
Von der Hauptstrasse in Habib, einem Vorort von Sfax, führt der Weg irgendwann rechts auf eine holprige Piste, entlang einem Abwasserkanal über Müllreste, Metallteile und Plastiktüten, die der Wind vor sich hertreibt, bis zum Bahndamm einer stillgelegten Bahnlinie. Vorne am Wasser ragt eine Müllhalde in die Höhe.
Nisar bekommt grosse Augen voller Hoffnung, wenn er mit dem Finger dorthin zeigt. Als würde das Glück dort drüben im Sand vergraben liegen. «Hier verstecken sie sich nachts im Schilf, bevor sie an Bord gehen», sagt der 23-Jährige. Er trägt einen Trainingsanzug des englischen Fussballklubs Chelsea. «Manchmal müssen sie zum Boot schwimmen. Dann wird vorher kräftig Alkohol getrunken, um das eiskalte Wasser nicht zu spüren», sagt er lachend. Wenig später startet das Motorboot dann jeweils Richtung Italien. Ob es dort ankommt, hängt vom Wetter und dem Geschick des Steuermanns ab.
Im Süden kostets mehr
Bisher hat Nisar nur andere für die Fahrt vermittelt. Nun will er endlich selber gehen, sobald das Wetter stimmt, und das könnte schon sehr bald sein. «Vielleicht schon heute Nacht», meint er hoffnungsvoll. «In Tunesien hält mich nichts zurück. Es gibt keine Arbeit, keine Zukunft. Daran ändert auch die neue Regierung nichts.» Nisar ist ausgebildeter Mechaniker. Doch er habe in den letzten vier Jahren keine feste Arbeit gefunden.
Die 1000 Dinar, umgerechnet 670 Franken, die Nisar für die Überfahrt bezahlen müsste, hat er nicht. Der Chelsea-Fan will als «Joker» auf ein Boot kommen. Als kostenloser Passagier. Dafür muss er drei, vier Passagiere anheuern. Und das hat er nun gemacht. Doch den Versprechungen der Organisatoren traut er nicht. «Einige sind Kriminelle, die im Gefängnis sassen, andere Fischer, die ihre Chance wittern und selbst ernannte Businessleute.» Notfalls werde er sein Recht auf einen Platz mit dem Messer erkämpfen, sagt der 23-Jährige.
Sfax liegt gut 330 Kilometer südlich von Tunis, und ist mit 340 000 EinwohnerInnen die zweitgrösste Stadt des Landes. Täglich kommen hier neue Menschen an, die auswandern wollen. Überall am Strand streifen Gestalten umher, die nach Kontakten suchen. Der Tarif von 1000 Dinar ist günstig. Weiter unten im Süden, bei Gabes und Sarsis, kostet ein Platz fast das Doppelte.
Von dort fuhren die meisten der rund 6000 TunesierInnen los, die letzte Woche auf den lampedusischen Inseln vor Sizilien landeten. Eine Massenankunft, die den italienischen Hilfsorganisationen ein logistisches Chaos bescherte. Aber es ist nicht nur der niedrige Tarif, der die Fluchtwilligen nach Sfax bringt: Die tunesische Küstenwache hat ihre Patrouillen in den letzten Tagen drastisch verstärkt.
Letzte Woche hatten die Behörden die Dinge einfach laufen lassen. «Die Polizei und das Militär waren quasi nicht existent», erzählt Essedine Saidi, der sich einige Tage in Sarsis aufgehalten hatte, um den Cousin seiner Frau von der Überfahrt abzuhalten. «Die Polizei sass in der Wache und hat zugesehen, wie die jungen Leute mit einem Boot nach dem anderen in See stachen. Wie an einem Busbahnhof. Nächster Halt Italien!» Saidi, Vater von zwei Kindern, versuchte einige der jungen Männer von der gefährlichen Reise, 120 Kilometer quer übers Mittelmeer, abzubringen. «Sie haben Träume im Kopf. Glauben, bald mit einem neuen Auto und viel Geld aus Europa zurückzukehren.»
Saidi fand den Cousin seiner Frau nur noch tot. Der Verwandte war einer der fünf Passagiere, die bei einer Kollision mit einem Schiff der Küstenwache ums Leben kamen.
«Die gleichen Diebe wie vorher»
Im Café Cactus, in Habib, stellt Nisar seine fünf Freunde vor. Aufgeregt sitzen sie an einem runden Tisch. Sie haben alle ihr Ticket nach Italien bereits gebucht. Revolution hin oder her. Walid verdient mit seiner Arbeit bei einer Erdölfirma monatlich umgerechnet 450 Franken. «Wir haben kein Vertrauen in die neue Regierung. Das sind die gleichen Diebe wie vorher.»
Die neue Generalamnestie für die politischen Häftlinge in seinem Land interessiert Walid ebenso wenig wie der Zustand des ehemaligen Diktators Zine al-Abidine Ben Ali, der in einem Krankenhaus in Saudi-Arabien im Koma liegen soll. Für Walid bedeutet die neu gewonnene Freiheit nur eines: endlich nach Europa auswandern. Unter Ben Ali war das fast unmöglich. Die Küsten wurden streng bewacht, Auswanderungsversuche mit bis zu fünf Jahren Gefängnis bestraft.
«Wir wissen, dass Europa kein Paradies ist», platzt Haytam heraus. «Aber wir müssen unsere Chance nutzen.» Der 25-jährige Universitätsabsolvent ist seit drei Jahren ohne Arbeit. Erst vergangene Woche habe er sich bei der Polizei beworben; nur mit einem saftigen Schmiergeld hätte er jedoch eine Chance gehabt. Beim Stichwort «Polizei» berichtet Mohammed erzürnt, dass Beamte ihn am Donnerstag auf der Strasse geschlagen hätten, weil er seinen Personalausweis zu Hause vergessen hatte.
Wenn es genügend Arbeit, höhere Löhne, keine Korruption und keine Polizeiübergriffe mehr gäbe, dann würden sie wahrscheinlich in ihrer Heimat bleiben. Aber daran will keiner glauben. «Bis dahin wird es länger als eine Ewigkeit dauern», sagt der 26-jährige Mohammed spöttisch.
Als die sechs jungen Leute aufbrechen, ist die Stimmung euphorisch.
WOZ vom 24.02.2011
Kommentare