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Ein trockener Knall auf der "Allee der Scharfschützen"

In Aleppo kämpfen viele kurdische Rebellen gegen das Assad-Regime. Auch Deutsche finden sich unter den Aufständischen, das von der Bundeswehr benutzte G3-Gewehr ist beliebt. Eine Frontreportage. Von


Kurdische Gegner des Assad-Regimes: Mitglieder der Liwa Salaheddin in der nordsyrischen Rebellenhochburg Aleppo. Das Bild zeigt die Zerstörung, die der Bürgerkrieg im Viertel Karm al-Schebal hinterlassen hat
Foto: VICTOR BREINER Kurdische Gegner des Assad-Regimes: Mitglieder der Liwa Salaheddin in der nordsyrischen Rebellenhochburg Aleppo. Das Bild zeigt die Zerstörung, die der Bürgerkrieg im Viertel Karm al-Schebal hinterlassen hat

Dichte Wolken, Regen und nur fünf Grad Celsius. Aleppo zeigt sich grau, trostlos und kalt. Bewohner sitzen vor offenen Feuerstellen und improvisierten Öfen im Freien. Verbrannt wird, was nur irgendwie Wärme bringt. Das schlechte Wetter würde man unter normalen Umständen verdammen. Jetzt bedeutet es für den von der Freien Syrischen Armee (FSA) kontrollierten Teil von Aleppo eine Erleichterung.
Die tief hängende Wolkendecke über der Industriemetropole im Norden Syriens schränkt den Einsatz von Kampfflugzeugen und Hubschraubern des syrischen Regimes ein. "Jetzt ist einmal Ruhe mit den Luftangriffen", sagt Mahmoud, ein junger Englischlehrer aus Aleppo, und lacht zufrieden.
Geblieben ist jedoch das tiefe Dröhnen vom Abschuss von Mörsern und Panzergeschützen, das Tag und Nacht in der Stadt zu hören ist.

"Allee der Scharfschützen" markiert die Grenze

Abu Ahmed (18) und Abu Kahled (25) haben neues Holz geholt und legen es auf die Glut in einen großen Blechtopf. Sofort züngeln die Flammen, und die jungen Rebellen strecken ihre kalten Hände der Wärme entgegen. Die beiden gehören zur Wachmannschaft einer Stellung der FSA, die in einer kleinen Wohnstraße im Viertel Karm al-Schebal liegt. Gleich um die Ecke, direkt hinter der Häuserfront, liegt die "Allee der Scharfschützen".

Sie markiert die Grenzlinie zum Territorium der Regimetruppen von Präsident Baschar al-Assad, das unmittelbar dahinter beginnt. Auf beiden Seiten der Allee haben die Bewohner ihre Wohnungen längst verlassen. An den Wänden sind Einschläge von Kugeln zu sehen, die meisten Fensterscheiben sind zerschossen.
Nach einer Weile ertönt der trockene Knall eines Scharfschützen. Darauf folgt noch ein Schuss. In der kleinen Seitenstraße bei Abu Ahmed und Abu Khaled ist man jedoch sicher.

Kurden im Syrien-Krieg gespalten

Es dauert fast eine Stunde, bis ein Mitglied der Liwa Salaheddin kommt, der zum Kommandanten dieser Brigade führen soll. Diese rekrutiert sich ausschließlich aus Kurden. Die Kurden sind die größte ethnische Minderheit in der Region. Zwei Millionen von ihnen leben in Syrien, sie machen zehn Prozent der Gesamtbevölkerung aus. Ihre Haltung zur syrischen Revolution ist gespalten.
Die Kurdische Demokratische Unionspartei (PYD) gilt als syrischer Ableger der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK), die in der Türkei seit mehr als drei Jahrzehnten für einen unabhängigen Staat kämpft. Die PYD will sich im syrischen Bürgerkrieg offiziell neutral verhalten. Man wirft ihr aber vor, Präsident Assad zu unterstützen.
In den letzten beiden Monaten war es zwischen FSA und den Milizen der PYD mehrfach zu bewaffneten Auseinandersetzungen gekommen. Der im Oktober 2011 gegründete Kurdische Nationalrat (KNC) dagegen macht keinen Hehl aus seiner Sympathie für die syrischen Revolutionäre.

Stadtviertel seit Monaten verlassen

Der Weg führt durch die vom Krieg völlig zerstörten und leeren Straßen von Karm al-Schebal. Dächer sind durch den Beschuss eingestürzt, Mauern eingerissen, ganze Fassaden fehlen, Trümmer, Möbel und Kleider liegen überall verstreut.
Die einzigen Menschen, die man hier noch antrifft: ein älteres Ehepaar, das im Schutt seiner Wohnung nach Habseligkeiten wühlt. Etwas weiter versuchen Vater und Sohn mit Schleifmaschine und Schweißgerät ihre Haustür zu reparieren, die aus den Angeln hängt. Der Soldat der Liwa Salaheddin führt in einen Hauseingang.
Danach geht es durch ein in die Wand geschlagenes Loch ins angrenzende Haus und von da ins nächste. Man marschiert durch fremde Wohnzimmer, mal mit barocken Plüschsofas, mal mit spartanischer Einrichtung.
Über Hinterhöfe, kleine Gärten, in denen noch die Wäsche an der Leine hängt. In Kühlschränken stehen Wasser und verfaultes Essen. Die Bewohner haben bereits vor Monaten das Stadtviertel verlassen.

Scharfschützen lauern Aufständischen auf

Es ist wie ein Marsch durch ein Labyrinth, in dem man sich nie allein zurechtfinden würde. Er ist notwendig, denn im Freien wäre man ein leichtes Ziel der Scharfschützen der syrischen Armee, deren Schüsse draußen immer wieder zu hören sind.
In einer Textilfabrik, die man durchquert, sind die Fadenspulen noch eingelegt. Die Maschine stammt von der deutschen Firma Groz Beckert aus Albstadt.
Noch einmal geht es über eine Leiter und einige Treppen, und man muss sich durch weitere kleine Wandlöcher zwängen, bis man den Posten der Liwa Salaheddin an der Frontlinie von Aleppo erreicht.

"Nach den Massakern konnte ich nicht anders"

Der Kommandeur, Bewar Mustafa, ist ein desertierter Hauptmann der Regimetruppen und war in einer Panzerschule in Homs stationiert. "Ich bin am 1. Mai dieses Jahres zu den Rebellen übergelaufen", sagt er mit sichtlichem Stolz.
Als Soldat war er ohne Telefon, Fernsehen und Internet völlig von der Außenwelt abgeschlossen. "Im Urlaub habe ich von meiner Familie von den schrecklichen Massakern in Hula und Chaldieh gehört. Da konnte ich nicht anders."
Etwa 2000 Revolutionäre folgen heute seinem Befehl. Mit der Gründung einer ausschließlich aus Kurden bestehenden Brigade wollte der 32-Jährige ein Zeichen setzen. Nach dem Fall Assads werde es ein freies, demokratisches Syrien geben, in dem es nicht mehr wichtig sei, zu welcher ethnischen Bevölkerungsgruppe man gehört.
"Die Kurden werden ihre Rechte bekommen wie alle anderen auch. Wir brauchen keinen unabhängigen Staat", meint Mustafa überzeugt.

Tödliche Gewalt zwischen FSA und PYD

Auf die PYD, die den Stadtteil Aschrafieh in Aleppo und zahlreiche Dörfer und Städte auf dem Land unter Kontrolle hält, ist Mustafa nicht gut zu sprechen. Sie duldet keine FSA-Präsenz in ihrem Hoheitsgebiet.
"PYD ist nur ein anderer Name für die PKK, die eine korrupte Mafia ist, Schutzgelder von ihren eigenen Leuten erpresst und wie ein Diktator herrscht." Am muslimischen Feiertag des Eid al-Adha war die FSA nach Aschrafieh eingedrungen. "Um militärisch wichtige Ziele zu zerstören", wie der Hauptmann bestimmend erklärt und dabei Tee servieren lässt.
Es kam sofort zu Schießereien mit der PYD. Seinen Angaben zufolge wurden 16 FSA-Rebellen und 30 Männer der rivalisierenden Kurdenmiliz getötet. Beide Seiten nahmen im Rahmen des Konflikts Geiseln.

Nach Assad-Sturz keine Rücksicht mehr

Bewar Mustafa erzählt: "Ich habe mit der PKK vier Tage lang verhandelt, dann kamen alle Gefangenen wieder frei."
Einen Konflikt zwischen Kurden und Kurden oder auch zwischen Kurden und Arabern dürfe es unter keinen Umständen geben, meint der Kommandeur. "Das ist jetzt eine rote Linie, die nie überschritten werden darf."
Nach dem Sturz Assads allerdings werde man keine Rücksicht mehr auf die PKK nehmen. "Sie haben zwar mehr als 3000 Bewaffnete, aber wir werden sie nicht bekämpfen müssen. Diese Kriminellen flüchten einfach aus dem Land."

Neues Gericht folgt auf Scharia-Räte

In unmittelbarer Nähe einer anderen Frontlinie in Aleppo geht es nicht um militärische Belange, sondern um zivile Angelegenheiten.
In Saif al-Dawla befindet sich das neue Gericht der Stadt. Es ist in einem ehemaligen Appartementhaus der Regierung untergebracht. Es ist eine Initiative von 50 Anwälten und Richtern, die es vor zwei Monaten gründeten. Sie lösten damit ein informelles System von Scharia-Räten ab, die auf der Basis des islamischen Rechts urteilten.
In vielen Landesteilen Syriens wird nach dieser Methode noch immer Recht gesprochen.

"Der Gerechtigkeit entkommt niemand"

In den vergangenen Tagen fanden in der Umgebung des Gerichts heftige Kämpfe statt. Der Lärm von Mörserabschüssen wollte kein Ende nehmen. Heute ist es verhältnismäßig ruhig.
"Wir bemühen uns, eine unabhängige Rechtsprechung durchzuführen", sagt Abdullah Karam, der Untersuchungsrichter. "Keine korruptes System mehr wie unter Assad." Man sei keiner Gruppe zugehörig und würde keinerlei Einfluss dulden. Zum Beweis hält er eine Akte hoch, in der es um ein Verfahren gegen einen Kommandeur der FSA geht. "Diebstahl", erklärt der Richter. "Wir kennen bei niemandem Pardon."
Natürlich sei es während des Kriegs schwierig, gerade FSA-Leute vor Gericht zu zitieren, aber die Verfahren würde man nicht einstellen. "Der Betroffene wird eben in Friedenszeiten zur Verantwortung gezogen", meint Karam. "Unsere Botschaft lautet: Der Gerechtigkeit entkommt niemand."

Scharia wird nur beim Familienrecht angewandt

In Aleppo gibt es Gerichthöfe für Zivil-, Straf und Militärrecht. Jeder Bürger kann eine Anzeige machen, die ein Staatsanwalt prüft, bevor sie an den Untersuchungsrichter weitergeben wird.
Nach einem Untersuchungsverfahren entscheiden drei Richter das Urteil. Verhandelt wird bei Kaffee und Tee in einem der kleinen Zimmer der Appartements des zum Gerichtsgebäude umfunktionierten Wohnhauses.
"Als rechtliche Grundlage dient die Gesetzesvorlage zur Zivilgesellschaft der Arabischen Liga", erläutert Untersuchungsrichter Karam. "Nur beim Familienrecht wird die Scharia, das islamische Recht, angewandt. Da sind wir keine Ausnahme zu anderen arabischen Staaten."

Kriegsverbrechen der Assad-Gegner kein Thema

Täglich gibt es zwischen 25 und 30 neue Verfahren. Bedauerlicherweise hätten die Delikte im Bürgerkrieg zugenommen. "Es ist Krieg, Waffen sind überall gegenwärtig und nicht jeder nutzt sie für einen guten Zweck", sagt Karam mit einem bedauernden Blick.
Trotz aller Probleme sei er ein neuer Mensch durch die Revolution geworden. Endlich könne er eigenständig arbeiten und mitgestalten. "Man kann machen, was man will. Das ist Freiheit."
Die Kriegsverbrechen der Rebellen, die nach der Eroberung Aleppos zahlreiche Gefangene brutal exekutierten, sind für das Gericht erst mal kein Thema. "Zumindest können wir heute die bewaffneten Gruppen zur Verantwortung ziehen und das Recht der Zivilisten stärken", meint Karam abschließend.

Warum kämpfen Deutsche in Syrien?

Auf der gegenüberliegenden Seite des Gerichts hat die Liwa al-Shabah ihr Büro. Einer ihrer Kommandanten und Pressesprecher ist Abu Yassin. Er stammt aus Reutlingen, ist Deutscher mit syrischen Wurzeln.
Im September hat er sich nach der Geburt seiner Tochter der Revolution angeschlossen. "Wir haben noch einige andere Deutsche in unseren Reihen", sagt er und fügt an: "Ganz echte sogar." Sie kämpften in Syrien, weil sie dem Abschlachten der Zivilbevölkerung durch Regierungstruppen nicht mehr tatenlos zusehen wollten.
Die Frage stellt sich aber, ob sie nicht einen islamistischen Hintergrund haben. Aus reinem, menschlichem Mitgefühl reist niemand nach Syrien, um die Waffe in die Hand zu nehmen. Eher schon, um seinen bedrohten Glaubensbrüdern zu helfen.

Das G3 der Bundeswehr ist beliebt

Mit seiner Brigade nahm Yassin an zahlreichen Gefechten teil. Am Sonntag waren sie zuletzt bei der Eroberung der Militärschule in der Nähe von Aleppo dabei.
"Dort haben wir viele Waffen erbeutet", versichert der 32-Jährige. "Ich darf Ihnen leider nicht sagen, was wir alles gefunden haben." Die meisten Waffen stammten aus russischer Produktion, aber auch rund 60 G3-Gewehre seien erbeutet worden. Waffen, die auch die Bundeswehr benutzt.
Yassin schwärmt: "Das ist mein Lieblingsgewehr, schießt wunderbar, und man kann es als Scharfschütze verwenden."

Waffenkontrolle mit "deutscher Gründlichkeit"

1300 Mann gehören zu seiner Brigade. "Mit deutscher Gründlichkeit" werde jede Waffe der Kämpfer registriert. Wer die Truppe verlasse, müsse sie wieder abgeben. Damit wolle man sicherstellen, dass man nach dem Ende des Bürgerkriegs die Kontrolle über die Waffen behält.
"Registriert wurde sogar meine Pistole", behauptet Abu Yassin und nimmt die noch aus der Tschechoslowakei stammende CZ 82 aus dem Halfter am Oberschenkel. "Bald ist es mit Assad vorbei", meint er euphorisch. "In den nächsten Tagen erobern wir den Flughafen von Aleppo und danach die ganze Stadt."
Dann sei der Weg frei nach Damaskus. Abu Yassin geht zurück in das kleine Büro der Brigade und setzt sich an den warmen Ofen. Das Essen wird serviert: Reis mit grünen Erbsen und einer Joghurtsoße.
Peter Steinbach

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