Im libyschen Küstenort Zuwara legen Flüchtlinge ihr Leben
in die Hände von Schlepperbanden. Unter schlimmen Bedingungen warten sie
auf die Reise ins Ungewisse. Die Schlepper verdienen an ihrem Elend. Von
Alfred Hackensberger, Zuwara
Der warme Abendwind weht durch die Palmen am Strand und bläst den Sand in die Vorgärten. "Heute fährt kein Boot nach Lampedusa,
das Wetter ist zu schlecht", stellt Abu Salem auf der Terrasse seiner
großzügigen, zweistöckigen Villa fest. Er zeigt aufs Meer hinaus, zu den
hohen Wellen, deren weiße Gischt auch in der Dunkelheit noch zu
erkennen ist. Abu Salem weiß, wovon er spricht. Er ist ein
Menschenschmuggler, der Flüchtlinge übers Mittelmeer illegal nach Europa
bringt.
Sein Standort
ist Zuwara, eine Hafenstadt an der libyschen Küste, von der es nur 154
Seemeilen, umgerechnet 291 Kilometer, nach Italien sind. Das ist die
kürzeste Fahrtstrecke von Libyen nach Europa. "Das wissen natürlich die
Flüchtlinge", erklärt Abu Salem. "Sie kommen zu uns aus ganz Afrika,
auch aus Syrien oder sogar aus Bangladesch und Pakistan. Und sie werden
immer mehr, denn hier in Zuwara fahren wir das ganze Jahr ab, ohne
Pause."
Der 38-Jährige ist seit 2005 "im Geschäft" und will rund 45 Boote übers Meer nach Italien geschickt
haben. 2013 seien es bisher fünf gewesen. "In der Zeit Muammar
al-Gaddafis war alles viel schwieriger", erzählt Abu Salem. Man habe
extrem vorsichtig sein und viel Geld für die Bestechung von Polizei,
Militär und Geheimdienst ausgeben müssen. Aber heute nach der Revolution
sei alles einfach geworden. "Es gibt kein Regime mehr, das alle
überwacht, und die neuen Sicherheitsbehörden sind klein und chancenlos",
fügt er lächelnd hinzu.
Vor der Küste
Zuwaras hatte ein Teil der Migranten das Unglücksboot bestiegen, das am
3. Oktober vor Lampedusa sank. Dabei starben 359 Menschen. Abu Salem
weiß natürlich davon und auch von anderen Schiffsunglücken. Er
behauptet, bei ihm hätte es noch nie einen Unfall gegeben. "Andere
stecken 200 Menschen auf ein 18 Meter langes Boot. Bei mir sind es nur
180. Ich überlade meine Boote nicht."
Bequem wäre das
trotzdem nicht. Aber er sei ja auch kein Flugkapitän, der eine angenehme
Reise verspreche, fügt er schmunzelnd hinzu. "Fehler macht nur die
neue, junge Generation der Schmuggler", sagt der 38-Jährige. "Sie haben
keine Erfahrung und denken nur ans Geld."
"Der Kapitän weiß nicht, was er tut"
Das behauptet
auch Faraj, ein "Geschäftskollege", der seit 2003 weit über 70 Boote
nach Italien geschickt hat. 2013 sollen es allein zwölf gewesen sein.
Das letzte sei im September ausgelaufen. "Der Kapitän weiß nicht, was er
tut, und der Mechaniker kann die Maschine nicht reparieren", sagt er.
So kämen die Schiffsunglücke zustande.
Zudem sind
Kapitän und Maschinist, die meist aus Ägypten oder Tunesien stammen,
keine Profis. Sie werden nur zwei oder drei Tage im Umgang mit GPS,
Satellitentelefon und Motor trainiert. "Sie bekommen eine Decke über den
Kopf und lernen so, sich mit dem GPS-Gerät zurechtzufinden", sagt
Faraj.
Bis zur Abfahrt
würden Kapitän und Maschinist getrennt von der "Fracht" untergebracht.
Mit Fracht sind die Migranten gemeint. Sie würden in einer Lagerhalle
oder in alten, verlassenen Häusern untergebracht, erklärt Faraj. Je nach
Größe des Bootes sind es zwischen 70 und 500 Menschen. Ob Männer, Frauen oder Kinder, niemand dürfe das "Frachtlager" verlassen.
Jede
Kommunikation mit der Außenwelt sei verboten. Mobiltelefone würden ihnen
abgenommen. "Das kann eine Woche oder zwei Monate dauern", erklärt
Faraj. Das hinge von Logistikproblemen und dem Wetter ab. Zum
Zeitvertreib gebe es nur einen Fernseher. "Das ist wie im Gefängnis",
gesteht der 45-Jährige unumwunden ein. Es gebe nur eine einzige
Toilette, die nicht funktioniere. Der Gestank sei unerträglich.
Streit sei an
der Tagesordnung. "Ich konnte die Tür oft nur in Begleitung eines
Dobermann-Kampfhunds aufmachen", erinnert sich Faraj. "Aber es geht
nicht anders. Schließlich arbeiten wir in der Illegalität."
Reich durch Menschenschmuggel
Die Migranten
waren oft schon ein, zwei Monate unterwegs, um nach Zuwara zu kommen.
Der überwiegende Teil muss in Libyen erst das Geld für die Überfahrt
erarbeiten. Das kann bis zu zwei Jahre dauern. Im Zentrum des Ortes
stehen Migranten an der Straße und warten auf Arbeitsangebote. Ibrahim
aus dem Niger ist einer von ihnen.
"An einem guten
Tag verdiene ich 30 Euro auf dem Bau", erklärt er. "Ich muss Geld nach
Hause schicken, hier leben und etwas für die Fahrt nach Italien
zurücklegen." Sein ältester Bruder hat in seinem Heimatdorf Taua, in der
Nähe von Agades, für die Reise nach Libyen einen Kredit aufgenommen.
"Wenn ich nicht nach Italien komme, ist es ein Desaster", sagt er. Der
Sohn eines Bauern wurde, wie alle anderen Migranten, von einem Landsmann
in Libyen von Ort zu Ort dirigiert.
Faraj hat heute
mit den Migranten persönlich nichts mehr zu tun. Er ist jetzt wie ein
Großhändler, der "Fracht-Kontingente" von seinen Kontakten in Ägypten,
Marokko, im Sudan oder Tschad kauft und sie von lokalen Repräsentanten
"verarbeiten" lässt. Das Geld dafür wird über Hawala, ein informelles,
privates Überweisungssystem, bezahlt, das wie Western Union
funktioniert.
Faraj und Abu
Salem sind mit dem Migrantenschmuggel reich geworden. Sie haben große
Häuser gekauft, neue Autos, und ihr Bankkonto ist gut gefüllt. "Ich
fahre nur Mercedes", sagt Faraj und zeigt den Daimler-Benz-Stern auf
seinem Autoschlüssel.
Teuer erkaufte Hoffnung auf eine bessere Zukunft
Zwischen 700
Euro und 900 Euro kostet die Überfahrt, egal ob Kind oder Erwachsener.
Nur Babys sind umsonst, wenn sie von den Müttern im Arm gehalten werden
können. Die Migranten müssen zahlen, bevor sie im "Frachtlager"
eingesperrt werden. "Natürlich mag ich das Geld, aber wenn mich
Migranten aus Italien anrufen und sich bedanken, wird mir warm ums
Herz."
Er sei auch der
einzige Schmuggler, der Rettungsschwimmwesten an seine "Fracht"
ausgebe. Faraj behauptet, er habe auch Kontakte zum Roten Kreuz in
Lampedusa, die dabei behilflich seien, einige seiner Bootsflüchtlinge
aus dem Internierungslager zu entlassen. Er schmunzelt wieder und möchte
darüber nichts weiter sagen.
Faraj begleitet
jedes seiner Boote bis zur Grenze der internationalen Gewässer, um
sicherzugehen, dass in die richtige Richtung gefahren wird. Von da an
übernehme man im Operationsraum das Schiff. Über das Satellitentelefon
gibt der Kapitän ihnen alle zwei bis drei Stunden seine Koordinaten
durch. Am Computer wird seine Position auf Seekarten verglichen und
notfalls korrigiert.
Sobald die
italienische Küste in Sicht ist, werden GPS, Satellitentelefon und die
SIM-Karte getrennt ins Wasser geworfen. Im Operationsraum sitzt neben
dem Koordinator und Faraj auch der Bootsbesitzer. Er bekommt die
umgerechnet 45.000 Euro für sein Schiff nur dann, wenn die Überfahrt
glattgeht und der Motor keinen Schaden nimmt. Ansonsten geht er leer
aus.
Polizei ist "hoffnungslos überfordert"
Normalerweise
dauert die Überquerung des Mittelmeers auf einem Fischerboot nicht
länger als 18 Stunden. Faraj lässt Benzin für 24 Stunden, Wasser und
Verpflegung für sechs Extratage aufs Schiff laden.Für die Menschen auf dem Boot, das im Oktober vor Lampedusa
kenterte, wäre aber auch Farajs vermeintliche Großzügigkeit nicht
ausreichend gewesen. Die Migranten waren insgesamt 13 Tage auf ihrem
Schiff unterwegs. Die Maschine war ausgefallen.
An der Küste
bei Zuwara versucht die Polizei zu verhindern, dass die Boote mit den
Flüchtlingen überhaupt ablegen. "Wir sind hoffnungslos überfordert",
gibt Abubakar al-Idrissi von der Polizei in Zuwara offen zu. "Wir haben
nicht genug Personal, zu wenige Wagen und Schiffe, um unseren
Küstenstreifen von 110 Kilometern zu überwachen."
Kurz nach
Mitternacht geht es im Geländewagen auf Patrouille entlang der Küste –
vorbei an bekannten Ablegeplätzen. "Wegen des schlechten Wetters werden
wir heute niemand finden", sagt al-Idrissi. Er fährt zum Machuk-Strand,
an dem sie vor drei Monaten eine tote schwangere Frau fanden.
"Mir haben
Migranten berichtet, dass Menschen oft ins Meer geworfen werden, vor
allem aus einem Zodiac-Boot, wenn zu wenig Platz ist", sagt er. In diese
Schlauchboote mit Außenbordmotor würden oft 70 Menschen gequetscht,
obwohl nur für ein Drittel Platz wäre.
T-Shirts mit EU-Fahnen lösen keine Probleme
Dieses Jahr hat
die Polizei von Zuwara rund 45 Zodiacs und 25 Fischerboote konfisziert.
Von den etwa 7000 Flüchtlingen, die damit nach Italien reisen wollten,
konnten sie 2000 verhaften. Hilfe von der Europäischen Union habe seine
Polizeistation nicht bekommen, sagt al-Idrissi. Er meint damit die
Eubam, deren Vertreter seit April in Tripolis sind.
"Wir können
nicht alles gleichzeitig machen", erläutert Antti Hartikainen, der
Leiter der EU-Mission für integriertes Grenzmanagement, im
"Korinthia-Hotel" in der libyschen Hauptstadt. "Wir haben bereits in
verschiedenen Städten zweitägige Trainingskurse für Grenzpersonal
gegeben." Die Eubam sei ein langfristiges, auf mehrere Jahre ausgelegtes
Programm. Schließlich hat Libyen eine 1880 Kilometer lange Küste und
4500 Kilometer Landesgrenzen.
"Diese Seminare
der EU sind sinnlos", meint Oberst Abdellatif Abulamuscha, der Chef der
Behörde für illegale Immigration in Tripolis, die für die Registrierung
und Deportation von Migranten zuständig ist. Es fehle der Praxisbezug.
"Um dem Problem wirklich zu begegnen, müsste man das Hauptquartier im
Süden Libyens installieren", erklärt er.
Der Oberst legt
eine Landkarte auf den Schreibstich und deutet auf die beiden
Wüstenstädte Sebha und al-Kufra. Das sind Transitpunkte für alle
Migranten, die die Sahara durchqueren. Diesen Weg nimmt der überwiegende
Teil.
"Wir haben über
das ganze Land verteilt insgesamt 19 Internierungslager, aus denen
Migranten zu uns gebracht werden", erklärt Abulamuscha weiter. Alle
Lager habe die libysche Regierung auf eigene Kosten eingerichtet. "Von
der EU haben wir außer 250 Schachteln mit Croissants mit
Schokoladenfüllung nichts erhalten", behauptet der Oberst. Dazu habe es
einige T-Shirts mit EU-Flagge darauf gegeben.
Der Versuch, die Katastrophe zu managen
Vor einem Jahr
sei eine EU-Kommission hier gewesen, habe eine Liste von notwendigen
Dingen aufgestellt und Fotos gemacht. Aber bisher sei nichts passiert.
Man brauchte Geländewagen, Hubschrauber, Boote und richtiges Training.
Etwa 25
Fahrtminuten von Tripolis entfernt, unweit des internationalen
Flughafens, liegt auf dem Land das Abschiebelager der Behörde für
illegale Immigration. In der ehemaligen Polizeikaserne in Tweischa sind
rund 400 Flüchtlinge nach Nationalitäten in verschiedenen Hallen
untergebracht. "Sie bleiben oft ein Jahr, bis sie mit dem Bus an die
Grenze in der Sahara abgeschoben werden", sagt Ahmed Salama, der
Kommandant des Lagers, und öffnet das schwere Tor einer Halle.
"Hier haben wir
120 Äthiopier und Somalier." Alle Augen der Internierten richten sich
sofort auf den Lagerchef. "Wir wollen nach Hause", sagen mehrere. In der
nächsten Halle beschwert sich Ibrahim aus Gambia über das schlechte
Essen. "Jeden Tag zum Frühstück Brot und Saft, mittags Makkaroni und
abends Soße mit Brot." Mit über 50 Menschen in einem Raum könne er
nachts außerdem nicht schlafen.
"Wir haben so
viele unterschiedliche Nationalitäten, dass ich sie gar nicht alle
aufzählen kann", sagt der Kommandant. "Von Pakistanern über Ägypter,
Eriträer bis hin zu Tschad und Nigeria. Er könne nichts dafür, dass
diese Leute so lange hier blieben, rechtfertigt sich Salama.
Die Bürokratie
in Tripolis sei eben langsam. Aber die Migranten hätten es noch gut.
"Normalerweise sind hier 1200 untergebracht, und Fußball spielen können
sie auch." Er deutet auf einen Bolzplatz mit zwei kleinen Toren.
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