Das syrische Grenzgebiet zur Türkei ist seit vier Monaten
Sperrzone. Unser Autor hat sich trotzdem dorthin gewagt. Unterwegs mit
einem Scheich, der aus Belgien gekommen ist, um das Land zu befrieden. Von
Alfred Hackensberger
Zu Gast beim Scheich, der aus Belgien kam
Die schwarze Flagge
von al-Qaida haben sie am syrischen Grenzposten abgenommen. Trotzdem
bleiben die Tore von Tall Abyad geschlossen. "Die Türkei lässt niemand
nach Syrien,
seit Daisch den Grenzübergang besetzt hat", sagt Mohammed, der seit
zwei Wochen vergeblich darauf wartet, seine Familie auf der anderen
Seite der Grenze zu besuchen. Mit dem Akronym Daisch meint der
deutschstämmige Syrier den Islamischen Staat im Irak und der Levante
(Isil).
"Ich hoffe, Sie
wollen da nicht rüber, dort ist al-Qaida", erklärt Mohammed in
gebrochenen Deutsch weiter. "Seit sie mit anderen Rebellengruppen
kämpfen, sind sie besonders aggressiv, und als Europäer haben Sie
schlechte Karten." Ein junger Mann neben ihm fährt mit der Hand quer
über seinen Hals, die Umstehenden lachen. "Ja, das ist kein Witz, die
schneiden Ihnen den Kopf ab", sagt Mohammed bekräftigend.
Daisch ist brutal und hat die besten Waffen
Daisch ist
bekannt für grenzenlose Brutalität gegen alle, die mit ihrer rigiden
Auslegung der Scharia, dem islamischen Recht, nicht konform gehen. Die
Gruppe unter der Führung von Abu Bakr al-Baghdadi ist ein Ableger von al-Qaida im Irak.
Sie tauchte in
Syrien erstmals im April 2013 auf, übernahm sofort eine Führungsrolle
innerhalb der syrischen Revolution und kontrollierte innerhalb von sechs
Monaten den größten Teil der Rebellengebiete. Daisch verfügt über die
besten Waffen und wird von religiösen Führern aus den Golfstaaten
großzügig finanziert.
Der Großteil der
Kämpfer stammt aus dem Ausland, sie wollen als Märtyrer des Islams ins
gelobte Paradies einziehen. "In ihren Augen sind wir alle Kuffar,
Ungläubige," sagt Abu Hussein, ein Kämpfer von Ahrar al-Scham. "Sie
wollen uns alle töten." Ahrar al-Scham ist eine von sieben
Rebellengruppen, die sich im November zur Islamischen Front
zusammengeschlossen haben.
Mehr als 1500 Tote bei internen Rebellenkämpfen
Im Januar war
der offene Krieg mit Daisch ausgebrochen, nachdem die Terroristen
wiederholt Kommandanten der Islamischen Front gefoltert und enthauptet
hatten. Daisch wurde aus den meisten ihrer Stellungen in Aleppo und
Umgebung vertrieben. Mehr als 1500 Kämpfer sollen bei diesem internen
Rebellenkonflikt getötet worden sein. Daisch ist jetzt nur noch in der
Provinzhauptstadt Raqqa und einigen wenigen Städten im Norden Syriens
präsent. Dazu gehört der Grenzort Tall Abyad.
"Ich war unter
den letzten vier, die über den Stacheldraht in die Türkei flüchten
konnten", sagt Ahrar-al-Scham-Kämpfer Abu Hussein. Die türkischen
Soldaten an der Grenze hätten ihm dabei geholfen. "Gott sei dank", ruft
er laut aus. "Denn alle meiner gefangenen Kameraden hat Daisch
kaltblütig exekutiert."
Systematische Jagd auf Journalisten
Die Extremisten
von al-Qaida sind auch am Grenzübergang von Bab al-Hawa, knapp 400
Kilometer weiter westlich, Thema Nummer eins. Nach einem doppelten
Selbstmordanschlag, bei dem am 22. Januar 16 Menschen starben, ist die
Grenze hier wieder offen.
"Ich glaube,
Sie sind nicht ganz bei Trost, nach Syrien einzureisen", sagt ein
türkischer Grenzbeamter, der ungläubig die Pässe kontrolliert. Seine
Überraschung ist verständlich, seit vier Monaten hat kein westlicher
Journalist mehr die Grenze überquert.
Daisch hatte
systematisch Jagd auf Pressevertreter gemacht und sie gekidnappt. Rund
30 Journalisten sollen sich in ihrer Gewalt befinden. "Keine Grund zur
Sorge", versicherte Abu Hadi, der für die Sicherheit des größten und
wichtigsten, syrischen Grenzübergangs zur Türkei verantwortlich ist.
"Wir von der Islamischen Front haben Daisch von hier vertrieben."
Es gebe noch
einen Stützpunkt, keine 30 Kilometer von Bab al-Hawa entfernt, aber dort
seien sie hoffnungslos umzingelt. "Diese Leute haben eine Gehirnwäsche
hinter sich", behauptet Abu Hadi. "Ihr radikaler Islam hat mit unserer
Religion nichts zu tun." Zehn Mitglieder von Daisch habe die Islamische
Front am Grenzübergang verhaftet. "Wir haben sie nach Hause geschickt,
nach dem sie versprachen, nicht mehr gegen uns zu kämpfen."
Friedensvertrag bezeichnet der Scheich als Fälschung
Mitten ins
Gespräch platzt die Ankunft von Scheich Bassam Ajaschi. Der Geistliche
ist ein Kadi, der in den gesetzlosen Zeiten der Revolution für Recht und
Ordnung sorgen will. "Alles genau nach den Prinzipien der Scharia",
sagt der Imam, über dessen Brust eine alte französische Pistole, eine
Handgranate und Handschellen baumeln.
Ajaschi lebte
lange Zeit in Belgien und genießt dort den zweifelhaften Ruf als
"Terrorist mit Verbindungen zu al-Qaida". In Italien war er im Jahr 2008
verhaftet worden, nachdem man in seinem Camping-Fahrzeug fünf illegale
Immigranten und Dschihad-Propagandamaterial gefunden hatte.
Ajaschi saß
vier Jahre im Gefängnis, bis ein Berufungsgericht das Urteil aufhob.
"Die Leute von Daisch sind Terroristen", sagt der sympathisch wirkende
Scheich. "Wir dagegen sind human, ganz nach den wirklichen Prinzipien
des Islams."
Einen im
Internet kursierenden Friedensvertrag zwischen Islamischer Front und
Daisch bezeichnet Ajaschi als falsch. Er habe mit Abu Issa, einem der
Führer der Islamischen Front und angeblichen Unterzeichner des Abkommens
gesprochen. Der habe ihm erklärt, nichts unterschrieben zu haben – das
Dokument sei falsch.
Scheinexekutionen zu pädagogischen Zwecken
In einem
Krankenwagen aus Belgien fahren wir unter dem Schutz der drei
bewaffneten Leibwächter des Scheichs nach Hassanu. Es ist eine
Kleinstadt etwa 20 Kilometer hinter der Grenze, unweit von Fua und
einigen anderen Dörfern, die noch vom Regime besetzt sind. In dieser
Gegend waren im vergangenen Jahr mehrere Journalisten entführt worden.
"In Hassanu wurde zuerst gegen Daisch gekämpft", behauptet Ajaschi, der
auf der Fahrt die Pädagogik seiner Scharia-Prinzipien erklärt.
Einem
Vergewaltiger habe man eine Kapuze über den Kopf gezogen und einen
Strick um den Hals gelegt. Als man ihn vom Stuhl stieß, landete er
jedoch auf den eigenen Füßen. "Es war eine Scheinexekution", erklärt
Ajaschi. "Dabei hat er sich sogar in die Hosen gemacht", fügt der Imam
sichtlich amüsiert hinzu. "Er wird nie mehr eine Frau belästigen." Zur
Zeit sei auch ein Dieb bei ihnen im Gefängnis: "Er bekommt täglich zehn
Stockschläge."
Auch Deutsche unter den Kämpfern
In Hassanu
erzählen Mitglieder des lokalen Rats von ihren Erfahrungen mit Daisch.
"Am Anfang waren sie nicht so schlecht", sagt Hadsch Mahmud. "Sie haben
Lebensmittel und Medikamente verteilt." Einige Deutsche seien auch unter
ihnen gewesen, und die seien besonders nett gewesen. "Sie sollten in
einigen Dörfern drusische Familien als Ungläubige erschießen, haben sich
aber geweigert", berichtet Abu Anas. "Wieso sollten wir unschuldige
Frauen und Kinder ermorden, hat mir einer gesagt."
Die
Ratsmitglieder wollen auch den deutschen Rapper Deso Dog gesehen haben.
Nach seiner Konvertierung heißt er Abu Talha und kämpft bei Daisch. "Er
gehört zu einer Gruppe von 50 Leuten, die von einem Belgier namens Ilias
Asaouaj angeführt werden", mischt sich Scheich Ajaschi ein. "Sie drohen
damit, Bomben in Paris, London und Berlin zu legen."
"Ihr Islam hat mit Islam nichts zu tun"
Zum offenen
Krieg mit Daisch kam es in Hassanu, nachdem die Extremisten ein Attentat
auf Scheich Saleh verübt hatten. Er ist ein angesehener religiöser
Führer der Region und überlebte den Anschlag schwer verwundet.
Der Scheich
soll zu Beginn der Revolution prominente Deserteure versteckt haben.
Unter ihnen soll auch Salim Idris, der heutige Chef der Freien Syrischen
Armee (FSA), gewesen sein. "Ja, ich half Idris und anderen Generälen
über die Grenze in die Türkei", bestätigt Scheich Saleh in seinem Haus.
Für den
Geistlichen ist Daisch die Ausgeburt des Teufels. "Ihr Islam hat mit
Islam nichts zu tun", meint der Scheich. "Außerdem werden sie vom
Assad-Regime gesteuert." Sie seien nur geschaffen worden, um Chaos zu
säen und das Image der Revolution zu beschmutzen.
Es ist eine
Meinung, die man seit den Kämpfen mit Daisch von Syriern ständig zu
hören bekommt. Dabei wird unterschlagen, dass die Mitglieder der
Al-Qaida-Gruppe lange Zeit als Helden bejubelt wurden. Außerdem gab es
sehr gute Beziehungen zur Islamischen Front, die man in Hassanu generell
favorisiert.
Wenige
Kilometer von Scheich Salehs Haus entfernt lag das Hauptquartier von
Daisch im Dorf Batabu. Das zweistöckige Gebäude ist verlassen, die
Fenster sind alle zerschossen. An der Fassade prangt noch das Emblem von
al-Qaida. Der Schriftzug von Daisch wurde überschrieben. Jetzt liest
man: Die Armee der Muhadscheddin.
Kämpfer werden in Trainingslagern ausgebildet
Zurück in der
Türkei treffen wir Abu Azzam, den Kommandanten der Faruk-Brigaden für
die Ostfront. Seine Brigade gehört zur FSA und war eine der ersten, die
Daisch bekämpften. Abu Azzam will zwar einen islamischen Staat, aber auf
der Basis einer parlamentarischen Demokratie mit freien Wahlen.
Für ihn sind
die Gruppen der Islamischen Front Heuchler. "Sie bekämpfen Daisch nur
halbherzig", sagt der Kämpfer, den man bereits dreimal wegen seiner
demokratischen Einstellung ermorden wollte. Sie würden ihre Waffen
zurückhalten.
"Man darf nicht
vergessen, die Islamische Front hat letztendlich die gleiche Ideologie
wie Daisch." Der Kommandant erzählt von Trainingslagern von Ahrar
al-Scham, die von Ausländern der Daisch geleitet würden.
Daisch beanspruchte das Kommando über alle Gruppen
Außerdem
erzählt er von einem großen Treffen in der Stadt Raqqa. "Ahrar al-Scham
und Daisch wollten einen gemeinsamen Emir wählen, was aber nur
gescheitert ist, weil Daisch auf ihren Führer al-Baghdadi als Chef aller
Gruppen bestand." Hinzu komme, dass die Islamische Front mit Dschabat
al-Nusra eng kooperiere, die sich ja offen zu al-Qaida bekenne. "Es sind
alles Extremisten", behauptet Abu Azzam.
Das "absolut
Absurde" sei für ihn nun, dass der Westen die Islamische Front bewaffnen
will. "Und das nur, weil sie gegen Daisch kämpfen." Als das Telefon
läutet, ist es Dschamal Maruf, der Chef der Syrischen Revolutionären
Front.
Abu Azzam
versichert ihm, dass er die 4000 Schuss Munition für 23mm- und
14,5mmm-Geschütze sowie 25 Panzergranaten wie geplant an die Front in
Kafra Hamra gegen Daisch geschickt habe. "Der Westen soll uns die Waffen
geben", sagt er abschließend. "Und nicht den Extremisten."
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