Seit 2007 sitzt ein Deutscher türkischer Abstammung
in libanesischer Haft. Ein Missverständnis, behauptet Sinasi Ates, der
Solidarität von Islamisten erfährt. Für deutsche Behörden ein heikler
Fall.
Von
Alfred Hackensberger
Bomben detonieren,
Mörsergranaten schlagen ein, Schüsse fallen. Es ist Nacht, drei Uhr
morgens. Etwa 20 Menschen marschieren durch die Ruinen von Nahr
al-Bared, einem palästinensischen Flüchtlingslager an der
nordlibanesischen Mittelmeerküste. Plötzlich wird das Feuer auf die in
der Dunkelheit nur langsam vorwärts kommende Gruppe eröffnet. Die
Menschen flüchten panisch in alle Richtungen.
Einer von ihnen
ist Sinasi Ates. Er läuft zum Strand und stürzt sich ins Meer. "Ich bin
ein guter Schwimmer", erklärt der Deutsche türkischer Abstammung. "Ich
blieb im Wasser bis es hell wurde. Nach fünf, sechs Stunden fanden mich
libanesische Soldaten und griffen mich auf."
Das geschah
Anfang September 2007. Seitdem sitzt Ates in Untersuchungshaft in einer
Zelle in Roumieh, dem größten und berüchtigsten libanesischen Gefängnis
in Beirut. Es ist für 1500 Häftlinge konzipiert, ist nun aber mit mehr
als 5500 Gefangenen hoffnungslos überfüllt. Ates droht die Todesstrafe.
Nahr al-Bared
existiert seit 1949. Im November 2006 gründete sich im Lager die
radikalislamische Untergrundorganisation Fatah al-Islam. Auch die
Trainingseinrichtungen und die Zentrale dieser Organisation befanden
sich in dem Lager.
Zwischen Mai und
dem 2. September 2007 kam es zu heftigen Kämpfen zwischen der
libanesischen Armee und der Fatah al-Islam. Damals starben mehr als 130
Kämpfer der Fatah al-Islam inklusive ihrer Führungsriege, sowie 157
libanesische Soldaten und 42 Zivilisten.
Bomben auf ein Flüchtlingslager
Dem heute
33-Jährigen Sinasi Ates wird vorgeworfen, für die Fatah al-Islam und
gegen die libanesische Armee gekämpft zu haben. Die radikale Gruppe hat
zahlreiche Attentate im Libanon begangen und hat angeblich auch
versucht, am 31. Juli 2006 Anschläge auf Eisenbahnzüge in Deutschland zu
verüben.
Dschihad Hamad,
einer der beiden "Kofferbomber von Köln", wurde im Libanon zu zwölf
Jahren verurteilt und sitzt, wie Ates, im Block B des Roumieh
Gefängnisses. Dieser Block ist Häftlingen vorbehalten, die verdächtigt
werden, Mitglieder oder Anhänger von Fatah al-Islam zu sein.
Der Auslöser der
bewaffneten Konfrontation im Flüchtlingslager war ein Banküberfall, bei
dem die Islamisten am 19. Mai 2007 vom Militär entdeckt und verfolgt
wurden. Aus "Solidarität" überfiel ein anderes Fatah al-Islam-Kommando
einen Checkpoint bei Nahr al-Bared und tötete 27 Soldaten im Schlaf. Am
1. Juni begann das libanesische Militär eine Bodenoffensive gegen das
Lager, das erst nach drei Monaten eingenommen werden konnte. "Es war ein
richtiger Krieg, unglaublich", meint Ates aufgewühlt, als wäre es
gestern erst geschehen. "Man konnte sich nicht bewegen. Überall fielen
Bomben."
"Ich wurde gefoltert und musste unterschreiben"
Die Anklage
gegen den deutschen Staatsbürger liest sich wie ein Thriller. Ates sei
einer der Bankräuber von Tripolis gewesen, die schießend durch die Stadt
gefahren seien. In Nahr al-Bared sei er Anführer einer Gruppe von
Kämpfern gewesen, die an vorderster Front todesmutig Stellungen der
Armee angegriffen habe. Der damals 27-Jährige soll Waffenexperte,
Scharfschütze und Sprengstoffspezialist der Kampfgruppe gewesen sein.
"Alles
Blödsinn", behauptet Ates in einem Skype-Gespräch aus seiner Zelle.
"Nichts von dem ist wahr. Ich bin völlig unschuldig. Es gibt keine
Beweise." Er trage zwar lange Haare und einen Bart, sei aber deshalb
noch lange kein Extremist.
Dennoch hat
Ates ein Geständnis unterschrieben. Darin gibt er zu, militärisches
Training erhalten und in Nahr al-Bared gekämpft zu haben. "Mir blieb
nichts anderes übrig", sagt Ates der "Welt". "Ich wurde gefoltert und
gezwungen zu unterschreiben." Gefängnispersonal habe ihn verprügelt und
mit Elektroschocks gequält. Er sei tagelang mit zusammengebundenen
Händen und Füßen an einem Stock aufgehängt worden.
Das ist eine in
der Region übliche Foltermethode. Der syrische Geheimdienst malträtiert
auf diese Weise Oppositionelle. Aber auch die ultrakonservative
Rebellengruppe Islamischer Staat im Irak und in der Levante (Isil)
wendet diese Methode bei ihren Gefangenen in Syrien an.
Menschenrechtsorganisationen beklagen Folter
"Ich wusste
nicht, was ich unterschrieb", berichtet Ates weiter. "Alles war auf
Arabisch, das ich nicht lesen kann." Man habe ihm einige Blätter
vorgelegt und gesagt: "Hier und hier, unterschreib! Dann hast du deine
Ruhe!" Doch seine Ruhe bekam er nicht.
Folter ist im
Libanon nicht ungewöhnlich. Im Jahresreport 2009 berichtete Amnesty
International, dass 316 verdächtige Fatah al-Islam-Anhänger gefoltert
worden seien. Die in der Schweiz ansässige Menschenrechtsorganisation
Alkarama bestätigt: "Folter wird verstärkt eingesetzt, um Geständnisse
zu erpressen." Es bestehe für Gefangene aus Nahr al-Bared das Risiko
eines unfairen Prozesses.
Die
regierungsunabhängige Organisation kritisiert zudem die lange
Untersuchungshaft, die zwar den Regelungen des libanesischen
Strafgesetzbuches entspreche, aber gegen internationales Recht
verstieße. Wenn es um die "Staatssicherheit" gehe, könnten Gefangene im
Libanon auf unbestimmte Zeit in Haft bleiben.
Ates suchte "eine richtige Muslima" zur Ehefrau
Ates' Mutter
wohnt in Goslar. Als deutsche Kriminalbeamte zu ihr nach Hause kamen,
war sie entsetzt. Die Beamten legten ihr ein aktuelles Foto ihres Sohnes
vor. "Er sah schrecklich aus und ich musste nur weinen", erzählt Leila.
"Als ich ihn danach im Gefängnis besuchte und seine Verletzungen mit
eigenen Augen sah, war mir klar, dass man ihn gefoltert hatte." Dreimal
besuchte die Mutter ihren Sohn in Roumieh.
"2008 ist es
mir wie meinem Sohn ergangen", erinnert sich die 55-Jährige. "Überall
wurde geschossen, über unsere Köpfe flogen die Kugeln und ich saß
tagelang in Beirut fest." Frau A. meint die bewaffneten
Auseinandersetzungen vom Mai 2008 in Beirut. Damals hatte es 11 Tote bei
Schießereien zwischen der schiitischen Hisbollah und Milizen der
Regierung gegeben.
Ates will
ebenfalls vom Krieg in Nahr al-Bared überrascht worden sein. Im Sommer
2006 habe er Goslar verlassen, um sich eine Ehefrau zu suchen, "eine
richtige Muslimin". Ates ist ein streng gläubiger Muslim, der sein
Schicksal in die Hände Allahs legt. "Nur er weiß als Erschaffer, was für
seine Geschöpfe das Beste ist", betont Ates immer wieder in mehreren
Gesprächen. "Alles hängt von Allah ab!"
Video zeigt Ates mit Bewaffneten
Ates reiste
zuerst in die Türkei und dann weiter nach Syrien. In Damaskus
zerschlugen sich seine Heiratspläne mit der Auserwählten, weshalb er in
Begleitung eines Freundes in den Libanon gefahren sei. In Nahr al-Bared
habe Ates bei einer Familie gewohnt, die er über Kontakte aus
Deutschland kannte. "Als der Krieg losbrach, sagte man mir, in ein paar
Tagen sei alles vorbei. Aber nach ein paar Tagen wurde es immer
schlimmer und es war lebensgefährlich das Camp zu verlassen."
Zehn Tage nach
Kampfbeginn sei er durch Bombensplitter verwundet worden und habe drei
Wochen im Krankenhaus des Flüchtlingslagers gelegen. "Die hygienischen
Verhältnisse, ohne fließend Wasser und Strom, waren ungeheuerlich",
versichert er kopfschüttelnd.
Aus der Zeit im
Krankenhaus soll es ein Video geben, das vor Gericht gegen ihn
verwendet worden sei. Es soll ihn mit Bewaffneten von Fatah al-Islam
zeigen. "Das ist kein Beweis", glaubt Ates. "Kämpfer kamen fast täglich,
um im Krankenhaus zu essen oder sich auszuruhen. Dagegen konnte man
nichts machen."
Deutsche Botschaft zahlt Anwaltskosten
Ob der
libanesische Richter ihm glaubt, steht zu bezweifeln. Zumal
Zeugenaussagen und Geständnisse, selbst wenn sie unter dem Verdacht der
Folter zustande kamen, als Beweismittel zugelassen werden. Ates hat
schlechte Karten. Er sitzt gemeinsam mit rund 50 anderen Verdächtigen
auf der Anklagebank.
"Der Anwalt
glaubt, mein Sohn ist unschuldig", sagt die Mutter. Wie könne denn
jemand, der kein Arabisch und kein Englisch spreche, eine Truppe von
arabischen Kämpfern anführen. "Das geht doch gar nicht."
"Ein Gespräch
mit den Medien ist gegen die Interessen meines Klienten", hieß es
lapidar aus der libanesischen Kanzlei Maschid Fayyad, die Ates vertritt
und bei dieser Gelegenheit ihren Mitarbeitern kategorisch verbot, jemals
wieder mit Journalisten über diesen Fall zu kommunizieren.
Für die
Verteidigung von Ates soll die Kanzlei umgerechnet rund 18.000 Euro
erhalten haben. Die Deutsche Botschaft in Beirut habe den Betrag
vorgestreckt. "Ich musste dafür ein Dokument unterschreiben und darf den
Anwalt auch nicht wechseln", sagt Ates, dem die deutsche
Auslandsvertretung monatlich Sozialhilfe überweist.
Ates fühlt sich allein gelassen
Von der
Botschaft in Beirut und dem Auswärtigen Amt in Berlin war keine Auskunft
zu erhalten. Man hält sich bedeckt. "Hintergrundinformationen, NICHT
zur redaktionellen Verwendung freigegeben", hieß es bürokratisch kurz in
der Begründung.
Name und ihre
Telefondurchwahl der zuständigen Mitarbeiterin des Auswärtigen Amtes ist
auf der Facebook-Seite für den "gefolterten und gefangenen Sinasi Ates"
angegeben. Dazu steht: "Die BRD ist in solchen Fällen klar verpflichtet
zu helfen, aber dieser Fall wird ignoriert. Klärt auf und leistet
Solidarität!" Bisher sei die Zahl der Anrufer im Amt noch überschaubar
geblieben, meint Frau S. "Trotzdem ist das nicht schön und zudem wenig
hilfreich", fügt sie genervt an.
Nach fast
sieben Jahren in einer Zelle im dritten Stock des Block B des Roumieh
Gefängnisses fühlt sich Ates allein gelassen. Er ist zermürbt und
verzweifelt. "Nichts wird für mich getan, alles dauert ewig und ein Ende
ist nicht in Sicht."
Mindestens 290 Deutsche bei al-Qaida
Der
islamistische Kontext ist für deutsche Behörden offenbar wenig
motivierend, über diplomatische Kanäle auf das Verfahren Einfluss zu
nehmen. Doch normaler Weise müsste die Bundesregierung gegen die
mögliche Folterung eines ihrer Staatsbürger und gegen die im Widerspruch
zu internationalem Recht stehende überlange Untersuchungshaft
protestieren. Im Auswärtigen Amt ist man froh, dass bei mehreren
erfolgreichen Ausbrüchen aus dem Roumieh-Gefängnis "Gott sei Dank kein
Deutscher dabei war".
Der
Verfassungsschutz verfolgt mit Sorge, wie die islamistische
Salafistenszene in Deutschland Jahr für Jahr anwächst und sich zunehmend
radikalisiert. Heute sollen im syrischen Bürgerkrieg mindestens 290
Deutsche auf Seiten der radikalen al-Qaida-Gruppen gegen das
Assad-Regime kämpfen. Diese jungen Männer werden als "Gefährder"
eingestuft, sollten sie mit ihrer Radikalität und ihrem Wissen in Bezug
auf Waffen und Sprengstoff je nach Deutschland zurückkehren.
Salafisten bekunden Ates Solidarität
Ausgerechnet
aus dem Salafisten-Umfeld kamen Solidaritätsbekundungen für den
Gefangenen Ates. Er selbst drückte öffentlich Bedauern über die
Verhaftung des "Bruders" Sven Lau, alias Abu Adam aus. Der Konvertit
gilt, neben Pierre Vogel, als einer der bekanntesten Islam-Prediger in
Deutschland. Lau steht im Verdacht, die Terrorgruppe Isil unterstützt zu
haben. Den Anklagepunkt, er habe Kämpfer für den Bürgerkrieg
rekrutiert, soll die Staatsanwaltschaft mittlerweile fallen gelassen
haben.
Auf seiner
Facebook-Seite warnt Ates die "Geschwister im Islam" vor den "Kuffar",
den Ungläubigen, in der Bundesrepublik. "Fühlt euch nicht sicher in
Deutschland", schreibt Ates in seiner Grußbotschaft. "Die Kuffar werden
euch nie in Ruhe lassen, auch wenn ihr brav in euren Häusern sitzt, sie
werden uns immer bekämpfen."
Wer sich derart
in die Nähe radikaler Islamisten stellt, löst Zweifel an seinen
Unschuldsbehauptungen aus. "Ich will unbedingt nach Deutschland zurück
und nichts anderes", beteuert Ates etwas überraschend zum Abschluss
eines der zahlreichen Skype-Gespräche. Am Ende scheint die
Bundesrepublik, trotz aller Kuffar, die Muslime "bekämpfen", dann doch
nicht so schlecht zu sein.
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