Seit acht Jahren wohne ich in der marokkanischen Hafenstadt Tanger, unterbrochen von zwei Jahren in Beirut, der Hauptstadt des Libanons. Für viele lebe ich in der Höhle des Löwen, geht man von gängigen Vorurteilen über den Islam aus, der gewalttätig, diktatorisch, unmenschlich und was weiß ich noch alles sein soll.
In meiner näheren Umgebung gibt es drei Moscheen, deren Muezzins fünfmal am Tag, selbstverständlich auch frühmorgens, zum Gebet rufen. Vielleicht sollte ich mich über den nächtlichen Lärm einmal beschweren oder auch über ein zu hohes Minarett, wie es in Deutschland bei Moscheenneubauten gemacht wird. Aber ich bin, ehrlich gesagt, noch nie auf den Gedanken gekommen. Ich fühlte mich von den Menschenansammlungen beim Freitagsgebet weder gestört noch eingeschüchtert. Im Gegenteil, die Moscheenbesucher, frisch herausgeputzt und in Festtagskleidung, machen stets einen gelassenen, zufriedenen Eindruck. Nach dem Gebet gehen sie nach Hause zum Mittagessen mit der Familie, nicht anders als Christen nach dem Gottesdienstbesuch am Sonntagmorgen.
Auch von Islamisten fühle ich mich nicht bedroht, obwohl es rein rechnerisch in einer fast zu 100 Prozent muslimischen Gesellschaft wesentlich mehr Radikale geben müsste als in Deutschland, wo nur 3,9 Prozent der Bevölkerung Muslime sind. Außer zwei Begegnungen, die man als religiös feindlich einstufen könnte, passierte mir innerhalb von knapp zehn Jahren nichts. Ein Taxifahrer wollte unter keinen Umständen das Fahrgeld aus meiner Hand nehmen, um sich nicht mit einem Ungläubigen zu beschmutzen. Ich musste die Münzen kurzerhand auf dem Sitz liegen lassen. Das zweite Mal wurde ich auf der Straße von einem bärtigen Herrn ganz in Weiß als dekadenter Westler beschimpft. Beides letztlich keine besonders einschneidenden Vorfälle.
In all den Jahren verlangte niemand von mir, ich müsse Arabisch lernen, die Kultur des Landes oder den Islam studieren. Niemanden kümmert es, wo ich wohne. Keiner wirft mir Ghettobildung oder mangelnde Integration vor, weil ich mich öfter mit Christen als mit Muslimen treffe. Niemand fordert mich auf, zum Islam zu konvertieren. Die Polizei behandelt mich zuvorkommend, auch meine nichtchristlichen Arbeitgeber und Kollegen tun das. Ich kann so viel Alkohol trinken, wie ich will, tanzen gehen bis in den frühen Morgen und bekomme die neuesten Kinofilme auf DVD, noch bevor sie in europäischen Kinos anlaufen. Meine Frau liegt am Strand im Bikini, muss kein Kopftuch tragen oder andere Kleidungsvorschriften beachten, sei es privat oder in der Arbeit. Jeder will unser Kind in den Arm nehmen oder auf die Wange küssen, weil es so ungewöhnlich blond, nett und freundlich sei.
Niemand sagt: Schon wieder ein Christ oder Ausländer mehr!
Die Aufenthaltsgenehmigung ist in Marokko oder dem Libanon relativ leicht zu erhalten, Kultur- oder Sprachtests gibt es nicht, noch muss ich meinen Integrationswillen sonst irgendwie beweisen. Das Einwanderungsverfahren ist wesentlich unkomplizierter als die Prozeduren, die man bei uns zu durchlaufen hat. Man fühlt sich als Ausländer oder Fremder willkommen und akzeptiert. Mit Integration hat dies nichts zu tun. Dazu müsste ich schon zum Islam konvertieren und eine marokkanische Frau heiraten. Aber wer will das schon? Ich auf keinen Fall. Islam und Integration sind nicht meine Kragenweite. Ich bin froh, dass man mich in Marokko in Ruhe lässt und keinerlei Ansprüche an mich stellt.
Das gibt dem Leben einen Grad von Ungezwungenheit. Ich stehe außerhalb der marokkanischen Gesellschaft, ihrer Kultur und Religion, gleichzeitig auch weit entfernt von meiner eigenen, deutschen oder europäischen. Ich habe gelernt, dies als Luxus zu empfinden: zwischen allen Stühlen, ohne Referenzrahmen, nirgends dazuzugehören. Meine Identität könnte man als ein Konglomerat verschiedenster Ingredienzien beschreiben, die aus vielen Ländern stammen. Zu den Momenten, in denen ich mich am wohlsten in Tanger fühle, gehören die Mittagessen am Sonntagnachmittag auf unserer Terrasse. Die Gäste kommen in der Regel aus fünf, sechs oder mehr Ländern: Spanien, Deutschland, Marokko, den USA, Frankreich, Kolumbien, Belgien, Kuba, Algerien oder Nicaragua. Ein erfrischendes Gemisch aus Sprachen, Ansichten und Kulturen. Es wird viel gegessen und getrunken, mit vollem Bauch bis in den Abend hinein Salsa getanzt. Heimat, das Fremde, Ausländer, Einheimische, mein Land und dein Land erscheinen dabei als abstruse Begriffe.
Es sind auch die kleinen Dinge des Lebens, deren Verschwinden in Deutschland so oft beklagt wird, die das Leben in Marokko angenehmer machen. In meiner Nachbarschaft gibt es keine Anonymität. Wenn ich nur ein, zwei Tage weg bin, erkundigt man sich, ob alles in Ordnung sei. Beim Lebensmittelhändler kann ich einkaufen, selbst wenn ich kein Geld habe. Sollte ich Hilfe bei Arbeiten im Haus benötigen, gibt es mehr als einen Freiwilligen. Dem Polizisten, der mich anhält, weil ich bei Rot über die Ampel fuhr, kann ich plausibel machen, warum ich in Eile war, und bezahle deshalb keine Strafe. Man wird nicht schief angesehen, wenn wir mit unserem Kind auch noch spät abends im Café oder Restaurant sitzen. Mit sentimentalem Romantizismus hat das nichts zu tun, der Alltag wird wesentlich erträglicher.
Der Reiz des Außergewöhnlichen verschwindet
Leben und Arbeiten in anderen Ländern über einen längeren Zeitraum ist etwas völlig anderes, als im Urlaub durch die Welt zu reisen, auf der Suche nach Exotik, nach dem Anderen, der Differenz zum Eigenen. Wer im Ausland lebt, für den verschwindet das Fremde sehr schnell. Je öfter und länger man woanders bleibt, desto resistenter wird man gegen exotische Verzauberungen. Man könnte es als eine Art Abstumpfungsprozess beschreiben. Die touristische Erwartungshaltung ist weg. Nichts hat den Reiz des Neuen mehr. Das Fremde ist Bestandteil des täglichen Lebens.
Ich muss mir immer wieder in Erinnerung rufen, wie schön beispielsweise der Weg von meinem Haus zur Hauptstraße ist, wo ich dann auf ein Taxi in die Stadt warte. Ich zwinge mich manchmal förmlich zum Blick auf die Meerenge von Gibraltar, die spanische Küste und die auf dem dunklen Wasser sich scheinbar im Zeitlupentempo bewegenden Schiffe. Dasselbe im Zentrum von Tanger am Platz der Kanonen, von dem man den Hafen und die Bucht der Stadt sieht. Momente der Vergewisserung, wo man lebt und wie schön es ist.
Wenn man sich nicht vorsieht, erzeugt Alltag Vergessen und zermürbt die Aufmerksamkeit für die Umgebung und die Menschen. In Deutschland ebenso sehr wie in Marokko oder anderswo. Verzauberungen, exotisch oder nicht, funktionieren bei mir nicht mehr selbstverständlich wie noch vor zehn Jahren. Die Aufenthalte in Marokko und dem Libanon, Reisen nach Syrien oder Katar veränderten den Blickwinkel und die Einstellung. Man erkennt den Relativismus von Kulturen, Lebensstilen, Religionen und Meinungen. Größere Toleranz ist ein Resultat davon. Gleichzeitig verschwindet jedoch das Besondere, Außergewöhnliche. Alles ist irgendwie gleich, ohne aber langweilig oder eintönig zu sein. Der Reiz besteht darin, Momente, Situationen zu erleben oder Menschen zu treffen, die einem zusagen. Man gewöhnt sich, alles so zu nehmen, wie es eben ist oder kommt. Überraschend ist selten etwas, höchstens interessant oder uninteressant.
Man könnte es als eine stoische Haltung bezeichnen, die für einige seltsam, ja komisch klingen mag. Fremd ist dadurch nichts mehr. Furcht vor dem Anderen und Unbekannten, Argwohn oder Hass dagegen, Liebe oder Faszination dafür treten weit in den Hintergrund. Als Beispiel hier vielleicht meine Fahrt ins libanesische Bekaa-Tal, die eigentlich als gemütlicher Sonntagsfotoausflug geplant war. Stattdessen landeten der Fotograf und ich im exterritorialen Gebiet der Mafia, genauer gesagt bei einem Glas Tee in der Küche eines Drogenbarons, der erst vor Kurzem von seiner Mutter und einigen Helfern gewaltsam aus dem Polizeigewahrsam befreit worden war. Bei unserer Fahrt ins Blaue, abseits der Hauptstraße, hatte unser Fahrer auf den unmarkierten Feldwegen völlig die Orientierung verloren. Wir waren in ein Terrain vorgedrungen, in dem man besser nichts zu suchen hat. Als Verdächtige eskortierte man uns in ein Dorf zu einem fünfstöckigen Haus, das zur Festung ausgebaut war. Im Untergeschoss befand sich die Garage, in der wir von einer schwer bewaffneten Wachmannschaft empfangen wurden. Die Männer trugen schutzsichere Westen, an denen mehrere Handgranaten hingen. Dazu Sturmgewehre, die sie entsicherten, als wir die Wagentüren öffneten. Wenig später mussten wir im obersten Stockwerk dem Chef Rede und Antwort stehen, wer wir seien und wohin wir wollten.
Nervosität oder andere Gefühlsausbrüche sind in dieser Situation unangebracht. Man kann sowieso nichts ändern. Man belässt es einfach dabei, wo man hineingeschlittert ist. Anstatt sich selbst emotional zu verzetteln, behält man einen klaren Kopf.
Eine Lektion, die sehr nützlich für den privaten und beruflichen Bereich ist. Nichts ist fremd, solange man es nicht dazu macht. Für mich eine sehr positive Sichtweise, die mir viel Ärger und Unmut erspart. In Marokko wird einem das fast täglich bewusst. Ob der Maler die falsche Wand mit der falschen Farbe bemalt, der Mechaniker einen Teil des Autos repariert, der gar nicht kaputt war, meine Schüler im Amerikanischen Sprachzentrum in Tanger Vorträge über Koranpassagen halten, die es nicht gibt, oder mir mein Nachbar das Glaubensbekenntnis zum Islam vorspricht, auf dass ich es wiederhole. Man zerbricht sich nicht mehr den Kopf darüber, warum die Menschen in dieser Kultur dieses und jenes machen oder auch nicht. Eigene Meinung hin oder her, man lässt es auf sich beruhen. Ein Pragmatismus, mit dem es sich besser lebt. Auf alle Fälle in Marokko.
Aus: www.culture-counts.de
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