Dem Bürgermeister der marokkanischen Stadt Meknes war nicht ganz wohl bei der Sache. Er stand zwischen Weinfässern, die mit Kerzenleuchtern dekoriert waren, und die Kellner servierten zu Häppchen Alkohol. Für Boubker Beloukra, Mitglied der islamistischen Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (PJD), eine arge Geduldsprobe. Er hätte das «Festival der Reben», das ausgerechnet am Tag des Freitagsgebets und am alljährlichen Gedenktag der Rückkehr König Mohammeds V. aus dem Exil stattfand, am liebsten abgesagt. Aber der Bürgermeister musste sich fügen. Das Reben-Festival ist Teil einer Werbekampagne der regionalen Tourismusbehörden, um mehr ausländische Besucher in die Gegend zu bringen und den marokkanischen Wein populärer zu machen. In Meknes und Umgebung wachsen 70 Prozent aller Rebstöcke Marokkos. Auf insgesamt 12 000 Hektaren produziert das Königreich 400 000 Hektoliter oder 33 Millionen Flaschen jährlich. Etwa 20 Prozent davon werden ins Ausland exportiert.
Marokko ist als Weinproduzent unter arabischen Ländern kein Einzelfall. In Algerien, Ägypten, Jordanien, Libanon, Tunesien und bald auch in Syrien wird ebenfalls Wein angebaut. Zusammen beläuft sich die Produktion auf 1,3 Millionen Hektoliter oder 146 Millionen Flaschen jährlich.
Paradies- oder Teufelstrank?
Für islamistische Parteien wie die ägyptischen Muslimbrüder oder die PJD in Marokko steht die Weinindustrie im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam. «Alkohol ist für Muslime verboten», bestätigt ausgerechnet der Verkäufer in einem Spirituosengeschäft in Tanger, in dem von Bier über Wein bis zu Whisky und Wodka alles zu haben ist. «Gläubige Muslime trinken keinen Alkohol», fügt er, vermeintlich erklärend, mit einem breiten Schmunzeln hinzu, bevor er einem Kunden mehrere Dosen Bier einpackt. In dem kleinen Laden im Zentrum der marokkanischen Hafenstadt geht nur ein Bruchteil der 50 Millionen Liter Alkohol über die Theke, die laut einer Statistik der unabhängigen marokkanischen Wochenzeitung «TelQuel» jährlich im Königreich Mohammeds VI. getrunken werden. Offiziell warten auf Betrunkene, die in Bars, Restaurants, Diskotheken oder auf der Strasse aufgegriffen werden, bis zu sechs Monate Gefängnis und eine Geldstrafe von 150 bis 500 Dirham, was 22 bis 75 Franken entspricht.
Im Koran gibt es keinen Vers, der den Gläubigen den Genuss von Alkohol ausdrücklich verbietet. Gott lässt neben dem Getreide, den Ölbäumen, den Dattelpalmen auch Weinstöcke wachsen (Sure 16:10-11). Von den Früchten der Dattelpalmen und den Beeren einen Rauschtrank zu machen, ist ein Zeichen für Verstand (Sure 16:67), im Paradies warten Ströme von Wasser, Milch, Honig und Wein (Sure 47:15). Allerdings ist Alkohol, wenn man betrunken ist, hinderlich beim Gebet (Sure 4:43). Und in Sure 5:90-91 wird Wein als das Werk Satans bezeichnet, der nur Feindschaft und Hass aufkommen lässt.
So negativ Alkohol im Koran teilweise auch dargestellt wird, wirklich verboten (harâm) wird er dort nicht, wie dies bei Aas, Blut und Schweinefleisch der Fall ist (Sure 5:3). Dennoch hat sich im Laufe der Zeit bei der Mehrheit der islamischen Rechtsgelehrten die ablehnende Haltung in Bezug auf den Alkohol durchgesetzt. Nach islamischem Recht (Scharia) wird Alkoholkonsum nun als Sünde betrachtet, obwohl es auch eine andere Auslegung geben könnte. Darauf berufen sich all jene Muslime, die nach Feierabend auf ein Bier oder auch mehrere nicht verzichten wollen. Gerne wird auch auf die persische und arabische Dichtungstradition verwiesen, die von einem toleranten Islam in vergangenen Zeiten berichtet und den Weingenuss preist. In der persischen Lyrik ist Hafis der wohl berühmteste Vertreter dieser Dichtung, unter arabischsprachigen Autoren war der ebenfalls in Persien geborene Abu Nuwas (750–819) ebenso berühmt wie berüchtigt. Er zeigte sich gleichermassen von Wein und Knaben begeistert: «Für junge Knaben liess ich die Mädchen zurück / Und alter Wein vertreibt den Gedanken von klarem Wasser aus meinem Kopf.»
Zur religiösen Begründung des Alkoholverbots dienen die Hadithe, die von Zeitzeugen mündlich überlieferten Aussprüche des Propheten Mohammed. Sie wurden rund 150 Jahre nach dem Tod Mohammeds (570–632) zusammengetragen und aufgeschrieben; zu den bekanntesten Hadith-Sammlungen zählt diejenige von al-Bukhari. Einer dieser Hadithe erzählt von Umar ibn al-Chattab, einem Weggefährten des Propheten und späteren Kalifen, der Wein geschenkt bekam und nicht wusste, was er damit tun sollte. «Aber wenn es verboten ist, ihn zu trinken, zu verkaufen und zu verschenken, was mache ich damit?» Der Prophet antwortete: «Geh nach draussen und zerschlage die Flaschen auf einem Stein.»
Trinken trotz Verbot
Für den Verkauf und Konsum von Alkohol gibt es keine einheitliche rechtliche Regelung. In einigen islamischen Ländern ist Alkohol offiziell nur Touristen vorbehalten, in anderen wiederum der Allgemeinheit zugänglich. Per Gesetz verboten ist Alkohol in Saudiarabien, Kuwait, Iran, im Sudan oder auch in Libyen. Getrunken wird aber trotzdem, selbst in Saudiarabien, das strenge Strafen für Vertrieb und Konsum von Alkohol vorsieht. Reiche Saudis können sich problemlos teure Spirituosen beschaffen. Eine besondere Vorliebe sollen sie für jordanischen Wein haben. Es vergeht fast kein Tag, an dem die saudische Polizei nicht eine illegale Alkoholdestillation aushebt. Die sechs Millionen Billig-Gastarbeiter aus dem asiatischen Raum – Philippinen, Indien, Sri Lanka, Bangladesh und Pakistan – brauen sich ihren eigenen Fusel und verkaufen ihn weiter. Selbst im theokratischen Iran muss man auf seinen Whisky oder Wodka nicht verzichten: Jugendliche verdingen sich als illegale Alkoholkuriere.
Problematisch wird es in muslimischen Ländern an religiösen Feiertagen wie dem Geburtstag des Propheten, dem grossen Opferfest und natürlich im heiligen Fastenmonat Ramadan. In dieser Zeit gilt der Genuss von Alkohol als besonders schändlich und sündhaft. In Marokko, Syrien oder Tunesien sind vor dem Beginn der Feiertage die Bars voll, die Geschäfte, die Alkohol verkaufen, machen in diesen Tagen Rekordumsätze. Vor Tagen der Abstinenz will man noch einmal richtig geniessen. Natürlich trinkt nicht jeder Muslim Alkohol. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) weist für Marokko 1,0, für Saudiarabien 0,6 oder für Pakistan 0,3 Liter reinen Alkohol pro Person und Jahr aus. Die Dunkelziffer liegt jedoch weitaus höher. Alkoholkonsumenten kommen aus besser verdienenden Kreisen, gleichzeitig aber auch aus den untersten Schichten, für die Alkohol ein Mittel des Vergessens ist.
Für die meisten Muslime bleibt Alkohol etwas Negatives. So waren junge Studenten, die ins Goethe-Zentrum von Tanger kamen, um deutsche Fernsehprogramme zu sehen, allesamt über die Alkoholwerbung entsetzt, in der Bier als gesund und vitaminhaltig angepriesen wurde. Völlig ungläubig schüttelten sie den Kopf, als wollte man sie mit einer präparierten Videokassette auf den Arm nehmen. Erst als jemand einige Male den Kanal wechselte, waren sie von der Authentizität der Bilder überzeugt. Aber noch lange nicht von der positiven Auswirkung von Bier auf den menschlichen Organismus.
Aus: NZZ vom 27.12.2007
Kommentare