Der ungewöhnliche Held Kassem Schascho führt die Jesiden an, die im Irak
gegen Islamisten kämpfen. Er ist eigentlich Gärtner gewesen, aus der
ostwestfälischen Kleinstadt Bad Oeynhausen.
Von
Eva Marie Kogel und Alfred Hackensberger
Der "Löwe von Sindschar" in jungen Jahren: Das Bild zeigt ihn vor den Bergen, die er jetzt für sein Volk verteidigt
Foto: privat
Seit Anfang August hält er sich im Bergmassiv von Sindschar
versteckt und kämpft bei Temperaturen von mehr als 40 Grad gemeinsam
mit seinen Getreuen. Gegen die Übermacht der Terroristen des "Islamischen Staates" (IS)
und für das Überleben der Jesiden. So berichten es jene Flüchtlinge,
die ihm sein Leben verdanken. Sein Volk nennt ihn den "Löwen von
Sindschar".
Der richtige
Name des Löwen lautet Kassem Schascho. Das Ungewöhnlichste an ihm ist
wohl sein Pass: Schascho ist deutscher Staatsbürger. Der 62-Jährige
Gärtner aus einer Stadt in Nordrhein-Westfalen war in den 90er-Jahren
aus seiner Heimat Irak in die Bundesrepublik geflohen. Nun ist er zurück
und bietet den Terroristen die Stirn. Wie viele Menschen die IS-Milizen
im Irak bereits massakriert haben, kann niemand sagen. Im Falle der
Jesiden im Nordirak ist der Gegner besonders rücksichtslos. Die Kämpfer
des IS haben die religiöse Minderheit in die kargen Berge von Sindschar
getrieben, wo sie ohne Schutz und ohne Wasser unter freiem Himmel auf
Hilfe warteten. An ihrer Seite: Kassem Schascho.
"Er ist ein
wahrer Held", raunen sich die Geflüchteten zu, die gerade das Martyrium
in den kargen Bergen hinter sich gebracht und es in die sicheren Städte
wie Zakho an der türkischen Grenze geschafft haben.
Mehr als eine Woche hatten Zehntausende Jesiden auf dem 60 Kilometer
langen und 1463 Meter hohen Bergrücken Zuflucht vor den Terroristen
gesucht. Die Extremisten belagerten sie, hungerten und dürsteten sie
aus. Viele Kinder und vor allem die Älteren überlebten die Tortur nicht.
"Der Löwe und seine Soldaten haben verhindert, dass
die Islamisten den Berg hochgekommen sind", sagt Said, ein älterer,
schmächtiger Mann mit grauem Schnauzbart und einem Turban auf dem Kopf.
Es hätte sonst ein Massaker gegeben, davon ist er überzeugt.
Ein Deutscher ist die Hoffnung der Jesiden
"Als Kassem in
Deutschland von unserer schrecklichen Situation hörte", sagt ein anderer
Flüchtling, "ist er sofort in den Irak geflogen, um zu helfen. Er ist
ein tapferer Mann." Die Tapferkeit des Löwen sei legendär, weiß auch der
Sohn des Löwen zu Hause in Deutschland zu berichten. "Mein Vater
übersteht Kriege, er watet durch Blut und er geht durch Feuer", sagt
Khaled. "Er fürchtet niemanden und kennt keine Angst." Seit der Vater
eine Waffe tragen könne, kämpfe er für sein Volk. Wie oft er ihn denn
sehe? In Deutschland sei der Löwe nur noch selten. Einmal, vielleicht
zweimal im Jahr besuche er seine Familie. Dann, wenn die Kämpfe es
zulassen und er für ein paar Wochen seine Arbeit in den Bergen ruhen
lassen kann. Oder wenn er dringend einen Arzt braucht.
Anfang Juli
erwartet seine Familie am Flughafen Hamburg die Ankunft des Löwen. Als
die Türen des Gates sich öffnen, wird er im Rollstuhl herausgefahren.
Doppelter Beinbruch, ein Autounfall. Die Familie erfährt erst jetzt
davon. Vor dem Flughafen habe er als Erstes nach einer Zigarette
verlangt.
Zuvor war der
Löwe mit ein paar Getreuen in der Türkei unterwegs gewesen. Was er dort
machte, als der Unfall passierte, darüber will Schascho nicht sprechen.
Ein Anschlag? "Aquaplaning", sagt sein Sohn und zuckt mit den Schultern.
Die Getreuen des
Löwen, die mit ihm im Auto saßen und glimpflicher davonkamen, werden
später berichten, dass der Löwe schwer verletzt aus dem Wagen gekrochen
sei. Dass er im türkischen Krankenhaus die Behandlung verweigerte. Dass
er keinen Schmerz kenne. "Die Ärzte da wollten ein Bein amputieren",
sagt sein Sohn. "Das geht natürlich nicht. Zum Kämpfen braucht man beide
Beine."
Ein Klinkerbau ist sein deutsches Zuhause
Die Familie
findet, dass der Löwe eigentlich in eine Notaufnahme gehört. "Aber das
wäre blöd gewesen für die ganzen Besucher", sagt Sohn Khaled, "die
hätten ja immer zwei Stunden nach Hamburg fahren müssen, um ihn zu
sehen." Den Schwerverletzten laden sie also vorsichtig in eines ihrer
Autos. Im BMW-Kombi fahren sie ihn heim, nach Nordrhein-Westfalen.
Das deutsche
Zuhause des Löwen liegt in einer verkehrsberuhigten Zone. Klinkerbau,
Doppelgarage, Hagebuttenhecke, zwei Balkone mit geschnitzter
Holzbalustrade. Hier wohnt seine Familie, jedenfalls ein kleiner Teil
davon. "Acht Leute", sagt einer der Söhne. "Nein, Quatsch, zehn", sagt
ein anderer. Sie einigen sich auf neun.
Zu Hause
angekommen, will der Löwe noch eine Zigarette rauchen, bevor die Familie
den Krankenwagen ruft. "Im Krankenhaus hatte er ein Einzelzimmer mit
acht Stühlen. Da fanden alle Besucher Platz", sagt Khaled. Drei Wochen
später wird der Vater auf Krücken entlassen. Einen Tag später fliegt er
zurück in den Irak. "Unser Vater opfert sein Leben für sein Volk. Als
Außenstehender ist das vielleicht schwer zu verstehen", mutmaßt der
Sohn.
Waffen und Geld werden gebraucht
Mit seinem
Vater in den irakischen Bergen hält er Kontakt übers Telefon. Die Akkus
laden sie dort über die Autobatterien. "Ich bin kein Held", sagt der
Löwe der Reporterin übers Telefon, "zumindest so lange nicht, bis mein
Volk nicht frei ist." Im Moment sei er "stinksauer", erklärt er. Bisher
sei keine internationale Hilfe bei ihm angekommen.
Was er brauche?
Vor allem Waffen und Geld. Auf die kurdische Armee, die Peschmerga, sei
kein Verlass: "Die haben zwar als Erste geschossen, sind aber auch als
Erste geflohen", sagt er. Von Milizen der Kurdischen Arbeiterpartei
(PKK) und den Volksverteidigungskräften (YPG) aus Syrien will er dafür
Hilfe bei der Evakuierung seines Volkes erhalten haben.
Das bestätigen
die Geflüchteten Jesiden im Irak. "Sie haben einen Fluchtkorridor frei
gemacht, uns zuerst nach Syrien und danach wieder in den Irak gebracht",
sagt später Said. Insgesamt sei man fünf Stunden
unterwegs gewesen. "Von den irakischen Peschmerga haben wir nichts
gesehen", fügt ein weiterer Flüchtling namens Swan an und die anderen
Entkommenen nicken bestätigend. Als sie hören, dass
alle lokalen kurdischen Fernsehkanäle im Irak die Soldaten der
Peschmerga als Helden der Befreiung der Jesiden feiern, wehren sie ab:
"Nein, nein, es gab keine Peschmerga", versichern die geretteten Jesiden
erneut. "Wir können doch die Abzeichen an den Uniformen lesen."
Schutz vor andersgläubigen Mehrheitsgesellschaften
Es ist nicht
so, dass die Jesiden sich nicht eingerichtet hätten in ihrer Rolle als
Minderheit. Seit Jahrhunderten haben sie Strategien entwickelt, die
ihnen den Schutz in einer andersgläubigen Mehrheitsgesellschaft
garantieren. Die Jesiden haben sich über ein kompliziertes Kastensystem
organisiert. Über die Kasten hinweg schließen sie seit jeher
Patenschaften – das garantiert Zusammenhalt und Schutz, denn Paten
passen aufeinander auf.
Es gibt sogar
Patenschaften zwischen Jesiden und Nicht-Jesiden, in den meisten Fällen
kurdischen Muslimen. Der Islamische Staat hat es geschafft, dieses
System zu untergraben. Was über Jahrhunderte funktioniert hat, scheint
jetzt als Modell für ein friedliches Zusammenleben gescheitert. Die
irakische Gesellschaft erodiert. Einige Paten, so erzählt Khaled, hätten
ihre eigenen Kinder an den Islamischen Staat ausgeliefert oder ohne
Gegenwehr deren Entführung beigewohnt.
"Hunderte haben sie verschleppt"
"Sie sind von
Haus zu Haus gegangen und haben alle getötet, die ihnen in die Hände
fielen", sagt ein ehemaliger Lehrer, der jetzt an der türkischen Grenze
in Sicherheit ist. "Und sie haben unsere Frauen entführt." "Hunderte
haben sie verschleppt", ruft Said dazwischen. "Das sind alles Barbaren."
Die ersten Entführungen von jesidischen Frauen wurden aus Sindschar
gemeldet, als der IS die Stadt eroberte.
Aber die
Extremisten sollen in der gesamten Region systematisch Jagd auf
weibliche Mitglieder der religiösen Gemeinschaft gemacht haben. "Aus
einigen Dörfern hat man 50 oder 60 Frauen mitgenommen", berichtet
Feleknas Uca, eine deutsche Linken-Politikerin mit kurdischen Wurzeln.
Die Jesidin arbeitet derzeit in einem Krisenstab in der türkischen Stadt
Silopi nahe der irakisch-syrischen Grenze. Hier wurde ein Lager für
mehr als 5000 jesidische Flüchtlinge eingerichtet, Helfer wie Uca
kümmern sich um deren Versorgung. "Wir wissen jetzt, dass mindestens 1500 Frauen in den Händen der IS sind", sagt Uca.
Die Terroristen
nähmen keine Rücksicht auf das Alter ihrer Opfer. "Sie haben Mädchen im
Alter von sieben und acht Jahren entführt sowie Frauen von 70 Jahren."
Von jenen Jesiden, denen die Flucht gelang, hat Uca schreckliche
Informationen erhalten. "Viele der entführten Frauen befinden sich in
Mosul. Dort hat man einen Marktplatz eingerichtet, auf dem sie
versteigert werden. Das ist Sklavenhandel", sagt Uca.
Die Tochter für acht Euro verkauft
Ein Vater habe
berichtet, seine Tochter sei dort für umgerechnet acht Euro verkauft
worden. Die Islamisten ließen einige der entführten Frauen mit ihren
Verwandten telefonieren. Die Familie soll vom Elend und Leid der
Tochter, der Schwester oder der Mutter erfahren. Psychologische Folter,
die sich als wirkungsvoll erweist.
Den Frauen
werde irgendwann während des Gesprächs der Hörer aus der Hand genommen,
eine fremde Männerstimme habe dann angekündigt: "Das ist jetzt meine
Frau und sie wird von mir viele Kinder bekommen." Angeblich wollen die
Extremisten die Jesiden ausrotten. Wer schwanger wird, gebärt Muslime.
Im Islam wird die Religionszugehörigkeit vom Vater auf die Kinder
übertragen.
Eines der
bekanntesten Gebete der Jesiden geht so: "Lieber Gott, bitte schütze
alle Völker und zuletzt uns selbst." "Was", sagt Khaled, der Sohn des
Löwen, "was muss den anderen Völkern erst Schlimmes widerfahren sein,
wenn wir jetzt so leiden müssen?"
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