Trotz des Embargos ist längst Rüstungsmaterial aus dem
Westen nach Syrien gelangt. Nicht nur die Rebellen, sondern auch
al-Qaida nahestehende Terroristen verfügen jetzt über
High-Tech-Kriegwaffen. Von Alfred Hackensberger und Thorsten Jungholt
Auf den ersten Blick
zeigt das Anfang März ins Internet gestellte Video der syrischen
Rebellen die übliche Propaganda: Kämpfer im Kugelhagel, durch knietiefen
Wintermatsch watend, reihenweise Konvois der Regierungstruppen
zerstörend.
Bei genauerem
Hinsehen aber offenbart der Film der Gruppe Ahrar al-Sham noch etwas
anderes. Die "freien Männer des Levant", einer der bekanntesten und
stärksten radikal-islamistischen Kampfverbände unter den syrischen
Rebellen, besitzen neue Waffen.
Zu sehen sind
rückstoßfreie Panzerabwehrkanonen vom Typ M60, Panzerfäuste der Baureihe
M79 Osa, Panzerabwehrraketenwerfer mit dem Kürzel RPG-22 und
Granatenwerfer vom Typ Mikor MGL/RGB-6. Das ist Kriegsgerät, das schon
im Jugoslawienkonflikt in den 90er-Jahren zum Einsatz kam, aber nichts
von seiner Durchschlagskraft eingebüßt hat.
3000 Tonnen Waffen aus Kroatien
Die Waffen sind
Teil einer 3000 Tonnen umfassenden Lieferung, die aus Kroatien stammt.
Sie wurde zwischen November und Februar über Jordanien und die Türkei
nach Syrien geschmuggelt.
Das Geld dafür
kam aus Saudi-Arabien, transportiert wurden die Rüstungsgüter von
türkischen und jordanischen Flugzeugen, unter logistischer Mithilfe von
Großbritannien. Die Lieferung war an nationale und säkulare Brigaden der
Rebellen übergeben worden, die damit nie gekannte militärische Erfolge
erzielten.
Nun aber ist das passiert, was die Absender unbedingt hatten vermeiden wollen: Die Waffen sind bei den Islamisten
gelandet. Wie weitere neue Internetvideos belegen, ist nicht nur Ahrar
al-Sham im Besitz dieses Kriegsgeräts, sondern auch die von den USA als
Terroristengruppe eingestufte Al-Nusra-Front.
Sinneswandel bei François Hollande
Mitglieder der
Syrischen Islamischen Bewegung und der Syrischen Befreiungsfront sollen
ebenfalls zu den Empfängern gehören. "Natürlich teilen andere Gruppen
ihre Waffen mit uns", sagte beispielsweise Ali Ankir, ein Sprecher der
Ahrar al-Sham, und fügt hinzu: "Wir kämpfen auch gemeinsam."
Diese Aussage
konterkariert die jüngste Einlassung von François Hollande. Frankreich
wisse genau, wie man die Waffen in die richtigen Hände bringe, hatte der
französische Staatspräsident behauptet. Er begründete damit den
Kurswechsel seines Landes: Ende Februar noch hatte Frankreich gemeinsam
mit den 26 anderen EU-Staaten das europäische Waffenembargo für Syrien
bis Ende Mai verlängert; Mitte voriger Woche dann verkündete Hollande,
unter Geleitschutz Großbritanniens, die syrischen Rebellen nun doch
aufrüsten zu wollen. Am Freitag wollen die von dem Vorstoß überraschten
EU-Außenminister bei einem informellen Treffen in Dublin darüber
beraten.
USA bilden in Jordanien Kämpfer aus
Schon jetzt tut
der Westen mehr, als offiziell zugegeben wird. So werden unter der
Federführung der USA seit Wochen syrische Oppositionskämpfer in
Jordanien ausgebildet. Wie ein Rebellenkommandant zugab, umfasst das
Trainingsprogramm die Schulung an Panzer- und Luftabwehrraketen – also
genau an jenem Typ von Waffen, die man der Opposition bisher
vorenthielt.
300
ausgebildete Kämpfer sollen bereits nach Syrien zurückkehrt sein.
"Weitere werden folgen", wie der Kommandant, der anonym bleiben wollte,
versicherte. Der Sprecher des Weißen Hauses, Jay Carney, kommentierte
die Camps in Jordanien so: "Wir liefern keine letale Hilfe." Auch die
offizielle Haltung der EU lautete bislang, den Rebellen nur
"nicht-tödliche" Waffen zu liefern.
Die
Bundesregierung begegnete dem Kursschwenk von Franzosen und Briten
"zurückhaltend", schloss allerdings Änderungen an dem bis Ende Mai
gültigen Waffenembargo auch nicht aus. Angesichts der dramatischen Lage
in Syrien sei "nichts in Stein gemeißelt", hieß es im Auswärtigen Amt.
Merkel: Schwierige Entscheidung
Sowohl
Kanzlerin Angela Merkel (CDU) als auch Außenminister Guido Westerwelle
(FDP) sprechen von einer "schwierigen Abwägungsentscheidung". Es sei nun
an Frankreich und Großbritannien, dem Rest der EU ihre Gründe für den
neuen Kurs darzulegen.
Das Beispiel
der Waffen aus Kroatien, die innerhalb weniger Wochen in den Händen der
Islamisten landeten, macht das Dilemma des Westens deutlich. Einerseits
will man sich für die Zeit nach einem Sturz Assads Einfluss in Syrien
sichern und baut deshalb auf die Dankbarkeit der Rebellen für gelieferte
Ausrüstung.
Andererseits
fragt nicht nur die Bundesregierung, sondern vor allem auch die
Beneluxstaaten und Skandinavier: Trägt man mit weiteren Waffen nicht zu
einer Eskalation des Konflikts bei? Denn ob man es will oder nicht: Wer
Kriegsgerät nach Syrien liefert, rüstet automatisch extremistische
Islamistengruppen auf.
Allein die Al-Nusra-Front ist 6000 bis 8000 Mann stark
Die haben
mittlerweile die Revolution gekapert. Als die militärischen
Schlüsselorganisationen innerhalb der Rebellen gewinnen sie zunehmend an
Einfluss. Die Al-Nusra-Front zum Beispiel, ein Ableger von al-Qaida im
Irak (Aqi), hatte bei ihrer offiziellen Gründung am 23. Januar 2012
einige hundert Mitglieder.
Ein Jahr später
schätzt man ihre Stärke auf 6000 bis 8000 Mann. Täglich sollen neue
Mitglieder hinzukommen. Sie sind, meist zusammen mit den Kämpfern der
Ahrar al-Sham, in Damaskus, Homs, Idlib und Aleppo aktiv. Im Nordwesten
Syriens kontrollieren beide Extremistengruppen die Hauptstraße, die von
Aleppo bis an die irakische Grenze führt. Die letzte Bastion der
Regimetruppen auf diesem Weg war die Stadt ar-Rakka.
Die Stadt, die
160 Kilometer von Aleppo entfernt liegt, wurde Anfang März eingenommen.
Bezeichnenderweise waren daran noch weitere Islamistengruppen beteiligt.
Die Verbindungsstraße in den Irak ist von entscheidender, strategischer
Bedeutung.
Kontrolle über Ölfelder
Ein Großteil
des Nachschubs der Islamisten kommt aus dem Nachbarland. Im Norden
Syriens hat al-Nusra die Kontrolle über einige Ölfelder übernommen. Nach
dem Sturz Assads ist damit ein wichtiges Faustpfand in der Hand der
Islamisten.
Zwar sind nicht
alle in der Region mit den neuen Herrschern zufrieden. In Mayadeen,
einem Ort in der an den Irak angrenzenden Provinz Deir Esor, kam es drei
Tage lang zu Protesten gegen al-Nusra. Demonstranten forderten den
Abzug der Kämpfer. Im Februar war es in der Stadt Idlib zu
Konfrontationen mit der Bevölkerung gekommen.
Al-Nusra gefiel
die Arbeit einer Frauenorganisation nicht. In Aleppo kam es einige Male
zu Konflikten zwischen den neu gegründeten Gerichten der Stadt und den
Scharia-Räten von al-Nusra, die auf ihre eigene islamische
Rechtsprechung bestehen. Letztendlich sind das aber nur Einzelfälle.
Kämpfer kommen auch aus Deutschland
"Die Kämpfer
von al-Nusra sind Helden", sagte Mahmud, ein Student im befreiten Aleppo
– und spiegelt damit die vorherrschende Meinung wieder. "Sie sind die
besten Kämpfer, stehlen und plündern nicht, wie einige andere
Rebellenbrigaden."
Je länger der
Bürgerkrieg in Syrien dauert, so scheint es, desto mehr wird das Land zu
einem Zentrum des Dschihadismus. Viele Hunderte von jungen Männern aus
Tunesien, Algerien, Libyen, Marokko, Saudi-Arabien, der Türkei, dem Irak
oder auch Mauretanien kämpfen mittlerweile in Syrien. Aus westlichen
Ländern sollen ebenfalls einige Hundert Freiwillige angereist sein.
Sie kommen
überwiegend aus Großbritannien und Australien. Aber auch einige
Franzosen und sogar Deutsche sind darunter. "Ich bin nicht der einzige
bei uns", versichert Abu Jassin, der in Reutlingen aufgewachsen ist. "Da
gibt es noch einige Leute aus Deutschland." Abu Jassin kämpft seit fast
einem Jahr in Aleppo und hat dafür seine Frau und eine Tochter in
Reutlingen zurückgelassen.
Die EU ist ratlos und zerstritten
Die EU steht
dieser Entwicklung nicht nur ratlos, sondern nun auch noch zerstritten
gegenüber. Dem Franzosen Hollande wird von vielen europäischen Partnern
unterstellt, dass er vor allem aus innenpolitischen Gründen agiert. Der
Präsident sei im eigenen Land unpopulär und erhoffe sich ähnlich wie bei
der Mali-Intervention, dass er nun für ein Zeichen der Entschlossenheit
gelobt wird.
Dem
innenpolitisch von allen Parteien kritisierten britischen
Premierminister David Cameron werden ähnliche Motive unterstellt. Die
Innenpolitik bestimme damit in Frankreich und Großbritannien den Kurs in
der Außenpolitik, so die Vermutung.
Auf dem
EU-Gipfel am Wochenende kritisierte Merkel ungewohnt deutlich: Es reiche
nicht aus, wenn zwei Länder ihre Position änderten und forderten, jetzt
müssten 25 andere folgen. Sogar die ansonsten zurückhaltende britische
EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton mahnte, dass Waffenlieferungen das
Töten in Syrien beschleunigten statt es zu verhindern. Letztlich aber
ist die Debatte längst entschieden: Das gültige Embargo ist bereits
durchlöchert. Und spätestens im Mai wird es beendet: Eine Verlängerung
wäre nur einstimmig möglich.
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