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Die Angst vor einem Blutbad in Afrin schürt die Wut auf Ankara

Tausende Kurden demonstrierten in Deutschland gegen die türkische Invasion in Afrin. Erdogans Hilfstruppen lassen ihrem Hass auf die Bevölkerung der syrischen Enklave freien Lauf - und schrecken auch vor Leichenschändung nicht zurück.
Von Alfred Hackensberger

Über 900 Demonstranten blockierten in Hamburg vorübergehend die Zuggleise der S-Bahn. Am Düsseldorfer Flughafen gab es Auseinandersetzungen zwischen türkischen Nationalisten und der Polizei. In Berlin brannte die Koca-Sinan-Moschee aus. Molotowcocktails flogen in Lauffen am Neckar gegen ein türkisches Gebetshaus, und im nordrhein-westfälischen Meschede wurden die Räume eines deutsch-türkischen Freundschaftsvereins in Brand gesetzt.
Die Proteste gegen die türkische Invasion der Kurdenregion Afrin in Syrien spitzen sich in Deutschland zu. In der Bundesrepublik lebt die größte kurdische Gemeinde Europas mit fast einer Million Menschen. Offizielle Vertreter warnen vor einem drohenden „Völkermord und ethnischen Säuberungen“ in Afrin. Die Sorge wächst mit jedem Tag, an dem die türkische Armee und ihre Hilfstruppen der syrischen Rebellen der Stadt immer näher kommen. 
Am Wochenende waren es noch sechs Kilometer bis an die Stadtgrenze, am Dienstag haben türkische Truppen und mit ihnen verbündete syrische Oppositionskämpfer mit der Belagerung Afrins begonnen. Dies teilte das türkische Militär mit. Das Militär habe die Kontrolle über „entscheidende Gebiete“ der Stadt übernommen. Doch das behauptet die türkische Propaganda schon seit mehr als einer Woche.  Noch immer gibt es einen fast acht Kilometer breiten Korridor im Süden, der noch nicht blockiert ist.  
Am Montag und Dienstag  flohen Tausende Zivilisten aus Afrin vor den heranrückenden türkischen Truppen in Gebiete, die von der syrischen Regierung kontrolliert werden. Ständig fallen Bomben der türkischen Luftwaffe. Am 20. Januar hatte die Offensive mit dem zynischen Namen „Olivenzweig“ begonnen. Nach über sieben Wochen ist Afrin nahezu eingekesselt. Nur im Süden gibt es noch einen acht Kilometer breiten Streifen, der die Stadt mit dem Umland verbindet. In Internetvideos sind lange Schlangen von Fahrzeugen zu sehen, die sich auf dem Weg aus der Stadt befinden, in der es schon lange kein fließend Wasser und keinen Strom mehr gibt. Auf den Ladeflächen der flüchtenden Kleinlaster und Pick-ups türmen sich Matratzen, Teppiche, Stühle, Töpfe und Gaskocher. Es sind die letzten Habseligkeiten, mit denen sich die Bewohner zu retten versuchen.
„Der entscheidende Vorstoß und die Einnahme der Stadt Afrin stehen unmittelbar bevor“, bevor“, hatte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan am Wochenende auf einer Veranstaltung seiner AKP-Parte verkündet. Aber so einfach, wie sich das der Autokrat vorstellt, dürfte es nicht werden. Denn Afrin wird von der syrischen Kurdenmiliz YPG kontrolliert. „Sie wird mit allen Mitteln um Afrin kämpfen“, sagt der politische Analyst und Kurdenexperte Wladimir van Wilgenburg. „Afrin soll in ein zweites Kobani verwandelt werden.“
Zur Erinnerung: Kobani wurde von der Terrormilz Islamischer Staat (IS) von September 2014 bis März 2015 belagert. Die YPG leistete gegen den übermächtigen Feind Widerstand und wurde von den USA mit Luftangriffen gegen den IS vor dem Untergang bewahrt. „Auf eine ähnliche Intervention hoffen die Kurden auch in Afrin“, sagt der Niederländer. „Sie werden bis zum bitteren Ende aushalten.“
Allerdings sei die Situation von damals und heute nicht zu vergleichen, sagt van Wilgenburg. „In Kobani ging es gegen eine Terrororganisation, und in Afrin ist der Gegner die Türkei, ein Nato-Land.“
Ganz so unrealistisch ist das Kalkül der Kurden jedoch nicht. Denn ein militärisches Eingreifen aus humanitären Gründen war schon einige Male im syrischen Bürgerkrieg nötig. Aktuell ist das am Beispiel der umkämpften Rebellenenklave Ost-Ghuta zu beobachten, die vom syrischen Regime rücksichtslos zurückerobert wird.
Am Montag warnte die amerikanische UN-Botschafterin Nikki Haley, die USAkönnten jederzeit militärisch zuzuschlagen, falls die humanitäre Katastrophe in Ost-Ghuta nicht beendet werde. Das gleiche Szenario wäre in Afrin denkbar, sollte sich die Situation weiter verschlechtern.

Mehr als 200 getötete Zivilisten

Bisher sind in der Kurdenregion durch den türkischen Angriff über 200 Zivilisten, darunter viele Frauen und Kinder, getötet und weit über 600 verletzt worden. Mit einem türkischen Vorstoß ins Stadtgebiet von Afrin wird es unweigerlich mehr Zerstörung und mehr Opfer geben.
Das wiederum könnte für Washington Grund sein, eine härtere Gangart gegenüber dem türkischen Nato-Partner anzuschlagen. Denn bisher wurde, wie in Ost-Ghuta, auch in der Kurdenregion nur tatenlos zugesehen.
„Die Schlacht um Afrin wird ein Blutbad“, teilt ein junger Deutsch-Kurde auf Facebok mit, der in den vergangenen Tagen an den Protesten in Berlin teilgenommen hat. „Sie müssen sich doch nur die Videos dieser angeblichen moderaten Rebellen ansehen, die die Türkei angeheuert hat.“
Tatsächlich wecken die Bilder schlimmste Befürchtungen. Zunächst war die Leichenschändung einer kurdischen Kämpferin gefilmt und veröffentlicht worden. Vor einer Woche machte ein junger Rebell lachend ein Selfie von sich und einem verkohlten Körper in einem ausgebrannten Wagen.
Die Gesinnung dieser türkischen Hilfstruppen ist dokumentiert. Es gibt Bilder von Kämpfern, die Al-Qaida-Lieder singen, über den islamistischen Widerstand von Grosny und im afghanischen Tora Bora. Andere drohen den säkularen Kurden mit dem Tod, sollten sie sich nicht bedingungslos Allah unterwerfen. Wieder andere beschimpfen die in der Kurdenregion Afrin ansässigen Jesiden. Diese befürchten, das unsägliche Leiden, das sie bereits unter dem IS erdulden mussten, könnte sich nun wiederholen. Auch an Drohungen gegen Christen fehlt es nicht.

Hass gegen Kurden und alle Nicht-Muslime

Die türkischen Rebellen sind auf einem Rachefeldzug, das sprechen viele ungeniert in ihre Handykameras. Unter „Gott ist groß“-Rufen erniedrigen sie selbst alte Menschen, die nicht mehr aus ihren Dörfern fliehen konnten, um dann ihre Häuser zu plündern. „Es ist mit der Türkei so abgesprochen“, sagt ein ehemaliger Rebell zu WELT, „dass wir unseren Sold mit Plünderungen aufbessern dürfen“.
Die türkischen Kämpfer stellen einen abgrundtiefen Hass gegen Kurden und alle Nicht-Muslime zur Schau. Sie verbrennen kurdische Flaggen oder treten sie als Zeichen der Erniedrigung mit Füßen. Sie rechtfertigen ihr Verhalten, indem sie die Kurden als „Verräter der syrischen Revolution“ bezeichnen. Bisher hatten die Rebellen kaum Gelegenheit, um ihrem Hass freien Lauf zu lassen. Aber nun, unter dem Schutz der Türkei, der zweitstärksten Armee der Nato, können sie ihre Gefühle ausleben.
In Afrin selbst wächst daher die Angst, ein Teil der Bevölkerung flieht panikartig. „Wir haben unheimliche Angst vor diesen Islamisten“, schreibt ein junger Mann aus der Stadt in einem sozialen Netzwerk. „Diese Leute sind völlig unberechenbar.“ Die Kurden-Proteste in Deutschland dürften weitergehen.






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