Neueste Umfragen in afrikanischen Ländern zeigen, dass bis zu zwei Drittel der Einwohner auswandern wollen. Dabei sind nicht allein Not und Terror ein Antrieb, sondern oft Verwandte und Freunde, die schon in Europa sind.
Von Alfred Hackensberger
Sie fahren tagelang durch die Wüste, werden ausgesetzt, beraubt und als Sklaven verkauft. Irgendwann, nach Monaten oder sogar Jahren, stürmen sie die meterhohen Grenzzäune der spanischen Enklaven in Marokko oder überqueren von Libyen aus, in völlig überfüllten Schlauchbooten, das Mittelmeer. Flüchtlinge aus Schwarzafrika setzen auf dem Weg nach Europa viele Male ihr Leben aufs Spiel.
Von Alfred Hackensberger
Sie fahren tagelang durch die Wüste, werden ausgesetzt, beraubt und als Sklaven verkauft. Irgendwann, nach Monaten oder sogar Jahren, stürmen sie die meterhohen Grenzzäune der spanischen Enklaven in Marokko oder überqueren von Libyen aus, in völlig überfüllten Schlauchbooten, das Mittelmeer. Flüchtlinge aus Schwarzafrika setzen auf dem Weg nach Europa viele Male ihr Leben aufs Spiel.
„Wir tun alles, um ins Paradies zu kommen“, sagen werdende Mütter, junge Paare und Unverheiratete, die ihre Heimat Kamerun, Nigeria, den Senegal oder Ghana verlassen haben. In Marokko sind es etwa 50.000 und in Libyen über 400.000, die auf den Sprung übers Mittelmeer in ein besseres Leben warten.
Und es ihren Landsleuten nachmachen wollen. Laut Angaben von Eurostat, der Statistikagentur der EU, beantragten zwischen 2014 und 2017 beinahe eine Million Bewohner der Länder südlich der Sahara Asyl in Europa. In Berlin, Rom, Paris und London mag sich das Augenmerk der Öffentlichkeit derzeit auf muslimische Einwanderer richten. Jedoch stehen Afrikaner in den Migrationsstatistiken wieder an vorderster Stelle.
Und das wird auch in den nächsten Jahren noch so bleiben, wie eine aktuelle Studie des renommierten amerikanischen PEW-Instituts zeigt. Sie hat in fünf der zehn subsaharischen Ländern nachgefragt, aus denen die meisten der afrikanischen Migranten in Europa stammen, dazu in Tansania. So leben jeweils zwischen 300.000 und 400.000 Menschen aus Nigeria und Südafrika, dazu 270.000 Menschen aus dem Senegal, 250.000 aus Ghana und 180.000 aus Kenia in Europa.
Zwei Drittel der Befragten zu Hause in Ghana (75 Prozent) und Nigeria (74 Prozent) sowie etwa die Hälfte von ihnen in Kenia, Tansania, dem Senegal und Südafrika wollen am liebsten auch auswandern. Bevorzugt in die USA oder nach Europa.
Ein Teil der Befragten hat schon den Plan gefasst: Rund 40 Prozent im Senegal, in Ghana und Nigeria wollen in den nächsten fünf Jahren weg. In Südafrika und Kenia sind es um die 20 Prozent und im Fall von Tansania bislang nur acht Prozent, die ihr Glück schon bald im Ausland versuchen wollen.
Auf den ersten Blick mag das wenig signifikant klingen. Aber in den subsaharischen Ländern leben insgesamt 1,1 Milliarden Menschen. Nimmt man an, dass sich nur zehn Prozent zur Migration nach Europa entschließen, dann wären das immer noch 110 Millionen Menschen. Und die Bevölkerung wächst dort, bei Geburtsraten von bis zu sieben Kindern, rasend schnell. Bis 2050 soll sich die Rate in Afrika verdoppelt haben. „Nahezu der gesamte Wachstum wird in den 51 Staaten der Subsahara stattfinden“, heißt es vom amerikanischen Population Reference Bureau.
Mit wachsender Zahl der Menschen steigen auch Armut und Hunger. Denn die Landwirtschaft kann die Bewohner in einigen Ländern bereits jetzt nicht mehr ernähren. Das Angebot von neuen Arbeitsplätzen ist völlig unzureichend. Kein Wunder, dass der Traum vom europäischen Eldorado in Afrika nicht auszulöschen ist.
„Die demografische Entwicklung ist eine tickende Zeitbombe“, warnt Raul Mateus Paula, der EU-Botschafter in Niamey, der Hauptstadt Nigers. Sollte diese Entwicklung nicht gestoppt werden, könne es zu einer Katastrophe kommen“, analysiert der EU-Vertreter. Denn alle Versuche der Abschreckung haben nicht gezündet. „Wer in Europa keine Arbeit findet, ist einfach faul und will nicht arbeiten“, bekommt man von afrikanischen Migranten in Marokko und Libyen stets zu hören.
Die schlechten Lebensverhältnisse in Afrika sind zudem für Terrororganisationen ein willkommenes Phänomen. Islamistische Gruppen wie Boko Haram und al-Qaida finden immer neue Rekruten in Nord- und Westafrika und Möglichkeiten, sich auszubreiten, was Stabilität und Sicherheit in den Ländern weiter verschärft.
Der Terror, aber auch andere militärische und politische Konflikte haben dazu geführt, dass laut PEW-Studie zwischen 2010 und 2016 rund neun Millionen Afrikaner ihre Orte verlassen haben und innerhalb ihrer Länder auf der Flucht sind. In der gleichen Zeit sind 2,3 Millionen Afrikaner in Nachbarländer geflohen. Auch hier dürfte es eine hohe Rate an Migrationswilligen geben, die den Kontinent verlassen würden.
Die EU hat viel gegen die bedrohliche Entwicklung in Afrika getan. Weit über 600 Millionen Euro werden allein Niger bis 2020 zur Verfügung gestellt. Mit dem Geld sollen Schulsystem, Gesundheitswesen und Infrastruktur erneuert werden. Aber in erster Linie geht es um die Eindämmung der Migrationswege.
Brüssel unterstützt auch die Sicherheitskräfte Nigers, dem Nadelöhr für Migranten in der Sahelzone. Wer weiter ans Mittelmeer nach Libyen oder Marokko will, muss hier durch. Jahrelang konnten Schmuggler in Niger ungehindert Hunderttausende Auswanderer transportieren. Seit Sommer letzten Jahres ist das nun mithilfe der EU vorbei. Die Zahlen der Migranten, die von der libyschen Küste nach Italien übersetzen, sind drastisch gesunken.
Trotzdem ist alles nur ein Tropfen auf den heißen Stein, weiß auch EU-Botschafter Paula. Um wirklich langfristig etwas zu verändern, müssten allen verarmten Länder Afrikas Hilfe zukommen. Aber das kann dauern und hat aus verschiedensten Gründen, die oft mit der Politik in den Ländern selbst zu tun haben, bislang wenig an der Lage der Menschen dort geändert.
Noch setzt die EU auf präventive Sicherheitsmaßnahmen, um den Zustrom zu verhindern. Dabei hat längst eine zweite Phase der Migration eingesetzt. Darauf verweist auch der neue PEW-Report. Viele der Befragten der Studie haben Freunde und Familie in Europa. Von denen werden sie zur Auswanderung motiviert und finanziell unterstützt. Nicht zu vergessen: 2017 lebten insgesamt 4,15 Millionen Migranten in Europa, wie PEW schreibt – 420.000 mehr als noch 2010.
Es geht heute also nicht mehr um die Perspektivlosigkeit in der Heimat allein, sondern um Freundschafts- und Verwandtschaftsbeziehungen in vielen Tausende von Kilometern entfernten Ländern. Mit dem Ausbau der Infrastruktur und der Schließung von Schmugglerrouten in afrikanischen Ländern kann man diese Art von Migrationswünschen nicht bekämpfen. Die EU mag Erfolge in Afrika erzielt haben, aber die Einwanderung aus den subsaharischen Ländern wird neue Wege finden. Denn es sind viel zu viele Menschen, die weg wollen und die man nicht einfach aufhalten kann.
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