Bei der Wahl in Libyen haben die Liberalen triumphiert. Doch der Sieg
ist fragil. Noch immer regieren Milizen ganze Städte. Werden sie ein
demokratisches Libyen überhaupt akzeptieren?
Sie hatten den Tod Muammar
al-Gaddafis auf den Straßen gefeiert. Die Verhaftung seines Sohnes Saif
al-Islam, den Tag der Befreiung und den Jahrestag der Revolution. Der
Wahltag war ebenfalls ein Anlass für zehntausende von Libyern für
nationale Gesänge, Fahnenschwingen und Hupkonzerte.
Nur war diesmal
alles noch emotionaler. Viele hatten Tränen in die Augen. "Ich bin jetzt
über 50 und wähle zum ersten Mal in meinem Leben", sagte ein
Familienvater. "Ich kann es immer noch nicht fassen", sagte Nadia, eine
Studentin, die als Freiwillige in einem Wahllokal in Tripolis arbeitete.
Kein Wunder nach
42 Jahren unter einem autokratischen Herrscher, der jede Opposition
brutal unterdrückte und Parteien als "Ausgeburt des Teufels, als
undemokratische Werkzeuge des Imperialismus" verboten hatte. Und nun gab
es plötzlich Hunderte von Parteien und mehr als 3500 Kandidaten für 200
Parlamentssitze, die man frei wählen konnte. Neun Monate nach dem Ende
eines blutigen Bürgerkriegs mit mehreren Tausend Toten war die Wahl ein
greifbares politisches Zeichen, dass sich endlich etwas bewegt.
Im Westen hatte
man befürchtet, in Libyen könnten sich die Wahlresultate der
Nachbarländer Ägypten und Tunesien wiederholen. Dort brachte der
Arabische Frühling Islamisten in die Regierung. Nach dem vorläufigen
Endergebnis der libyschen Wahlkommission ist es jedoch die als liberal
geltende Partei "Allianz der Nationalen Kräfte" (NFA), die die ersten
freien Wahlen seit der Machtergreifung Gaddafis 1969 gewonnen hat. Die
NFA erhielt 39 der insgesamt 80 Sitze, die für die Parteien im Parlament
vorgesehenen sind.
Islamisten sind weit abgeschlagen
Weit
abgeschlagen mit 17 Abgeordneten die islamistische "Partei für
Gerechtigkeit und Aufbau" (PJC). An dritter Stelle, mit drei Sitzen,
folgt die Nationale Front Partei (NFP), die, nach Aussagen ihres Führers
Muhammad Magaraif "keine islamistische Partei, sondern eine nationale
oder patriotische" ist. Die restlichen 21 Sitze teilen sich 18
verschiedene Gruppierungen, darunter die Nationale Zentrumspartei (NCP)
mit zwei Abgeordneten, die von Ali Tarhouni, einem erklärten Säkularen
und ehemaligen Ölminister im Nationalen Übergangsrat, angeführt wird.
Der Gewinner der
Wahl, die NFA, ist ein Bündnis aus mehr als 60 Parteien und zwölf
zivilen Organisationen. An seiner Spitze steht Mahmud Dschibril, während
des Bürgkriegs Premierminister im Nationalen Übergangsrat und
Galionsfigur der libyschen Revolution. Der heute 60-Jährige, der in den
USA seinen Doktor in Politologie machte, leistete damals bei westlichen
Regierungen die entscheidende Überzeugungsarbeit für eine militärische
Intervention.
Sehr
wahrscheinlich ist es das, was Dschibril bei den Wählern so populär
machte. Die gesamte Wahlkampfkampagne der NFA war auf seine Person
ausgerichtet, sein Bild in Libyen allgegenwärtig, als wäre er der
einzige Kandidat der Partei. Dabei ist er, wie alle anderen ehemaligen
Mitglieder des Übergangsrates, von den Wahlen grundsätzlich
ausgeschlossen. Seine Gaddafi-Vergangenheit – Dschibril war 2007 Chef
des libyschen Nationalen Planungsbüros und arbeitete gemeinsam mit Saif
al-Islam, der als sein guter Freund gilt, an einer neuen Verfassung –
tat der Begeisterung der Wähler keinen Abbruch.
Ein weiterer
Grund von Dschibrils Erfolg: Dem erfolgreichen Geschäftsmann traut man
den Wiederaufbau des Landes am ehesten zu. Er wird mit dem Westen, der
als Partner eines wirtschaftlichen Neubeginns gebraucht wird, keine
ideologischen Konflikte provozieren. Dschibril ist bekannt für seinen
Pragmatismus und seine Bereitschaft für konstruktive Kooperation.
Eigenschaften, die auch innenpolitisch gefragt sind, um endlich das
herzustellen, was den Libyern am meisten am Herzen liegt: sozialer
Frieden und Sicherheit. Dschibril ist gegen die Macht der Milizen, von
denen Hunderte noch immer das Land kontrollieren und seine Bewohner in
Angst und Schrecken versetzen.
"Regierung muss Islam integrieren"
Mit
islamistischen Parteien in Regierungsverantwortung wären Konfrontationen
mit dem Westen vorprogrammiert – schon wegen der Einführung der
Scharia, dem islamischen Rechtssystem. "Im Islam gibt es keine
Alternative", behauptet Mohammed Sawan von der fundamentalistischen PJC,
dem politischen Arm der Muslimbruderschaft. "Die Regierung muss den
Islam in jedem Aspekt ihrer Arbeit integrieren." Und das bedeutet für
den Parteivorsitzenden: die Einführung der "Scharia als einzige Quelle
des Rechtssystems". Eine Zusammenarbeit mit der NFA ist deshalb
unwahrscheinlich, da die Partei keinen religiösen Staat, sondern einen
zivilen möchte. An die Scharia angelehnt, aber nicht mit dem Gebot der
Ausschließlichkeit. "Dschibril glaubt, dass die Scharia nur auf
bestimmte Aspekte des Lebens anzuwenden sei", erklärte Islamist Sawan.
"Das sind die gleichen Ansichten, wie sie Gaddafi hatte."
Die PJC
arbeitet an einer Mehrheit im Parlament. Neben den 80 Abgeordneten der
Parteien gibt es weitere 120 Sitze, die unabhängigen Kandidaten
vorbehalten sind. "Rund 20 unserer Mitglieder haben unabhängige Sitze
bekommen und wir sprechen mit vielen anderen parteilosen Abgeordneten",
sagt der PJC-Vorsitzende Sawan zuversichtlich. Zudem stehe man mit zehn
Parteien in Kontakt, um eine Mehrheit zusammen zu bekommen. Die
Mehrheitsverhältnisse im neu gewählten Parlament, das eine
Übergangsregierung und eine verfassungsgebende Versammlung bestimmen
soll, sind noch nicht klar.
Innerhalb der
nächsten zwei Wochen wird sich entscheiden, ob Liberale oder Islamisten
mit der Regierungsbildung beauftragt werden. In 14 Tagen läuft die Frist
für Einsprüche gegen die Wahlergebnisse ab.
Nun beginnt ein
regelrechter Kuhhandel – umsonst werden in Libyen keine Allianzen
gewonnen. Da spielen Stammes- und Familienzugehörigkeit eine Rolle,
Geld, Posten und Gefälligkeiten. Vetternwirtschaft und Korruption prägen
große Teile von Gesellschaft und Politik. Bestes Beispiel: Hunderte von
Millionen Euro an staatlichen Unterstützungsgeldern wurden betrügerisch
erschlichen, als sich Tausende von Menschen als Rebellen und Verwundete
ausgaben oder sogar Tote meldeten, die nicht existierten.
Milizen regieren mehrere Städte
Die größte
Herausforderung für jede neue Regierung sind jedoch die Milizen. Wie ein
neuer Bericht der internationalen Menschenrechtsorganisation Amnesty
International zeigt, besitzen Milizen die Macht in Libyen. Sie haben
Tausende von Menschen vertrieben und ihre Häuser abgebrannt.
Sie verhaften,
foltern, morden nach Gutdünken und genießen per Gesetz Immunität, da
"sie die Revolution schützen". Um der Gesetzlosigkeit Herr zu werden,
gründete die Übergangsregierung die Obersten Sicherheitskomitees, die
100.000 Mann umfassen.
Ein Großteil
der Milizen, die dazu gehören, hat aber nur die Uniform gewechselt.
Offiziell sorgen sie für Sicherheit, begehen aber weiterhin Verbrechen.
Mehr als 5000 Häftlinge sitzen nach Angaben von Amnesty in Gefängnissen
der Milizen: willkürlich verhaftet, verprügelt und misshandelt.
Misrata und Bengasi – von Milizen regiert
Die große Frage
ist, wie diese bewaffneten Gruppen reagieren werden, wenn die Regierung
ihnen ihre Macht zu nehmen versucht. Misrata hat eine der stärksten
Milizen, bekannt für ihre radikal-islamistische Haltung. Werden sie
Anweisungen einer liberal-moderaten Regierung unter Dschibril befolgen?
In Bengasi, wo
es im Vorfeld der Wahlen Proteste gegen die Dominanz der Hauptstadt gab,
wird man ebenso wenig begeistert sein. Dort wurde in diesem Jahr mit
der Gründung einer Föderation Ost die Basis für einen eigenen Staat
geschaffen.
In Zintan
verhaftete man die Anwälte des Internationalen Strafgerichtshof, die
Saif al-Islam besuchten. Als mutmaßliche "Spione" saßen sie wochenlang
im Gefängnis.
Ein
demokratisch gewähltes Parlament ist ein Meilenstein auf dem Weg Libyens
in die Zukunft. Aber für die Erfolgsgeschichte, als die das Land im
Westen bereits gilt, müssen noch einige Kapitel geschrieben werden.
Kommentare