Frankreich und die USA sehen es als bewiesen an, dass das
Assad-Regime im syrischen Bürgerkrieg chemische Kampfstoffe einsetzt.
Die Beweise aber sind dünn. Eine Spurensuche. Von Alfred Hackensberger
Es ist keine
gewöhnliche Einrichtung, die auf einem 20 Kilometer langen und fünf
Kilometer breitem Gelände auf den umliegenden Hügel der Stadt
untergebracht ist. Vor dem Bürgerkrieg wurden hier Jahrzehnte lang
chemische Kampfstoffe hergestellt. Al-Safireh, eine Kleinstadt mit
130.000 Einwohnern im Südwesten von Aleppo, war einer der bedeutendsten
von insgesamt fünf Standorten in Syrien, an denen
Massenvernichtungswaffen produziert wurden. Eine Industrie, die nach
Schätzungen westlicher Geheimdienste eine Produktionskapazität von
einigen hundert Tonnen pro Jahr hatte.
"Es war die
Abteilung 500, zu der nur Leute mit Spezialausweis Zutritt hatten",
erinnert sich Mohammed, der als Feuerwehrmann im Militärkomplex von
al-Safireh arbeitete und jetzt auf der Seite der Rebellen kämpft. "Nur
ein kleiner Teil des Chemie-Gebäudes ragt aus der Erde, der Rest ist
unterirdisch. Von einem Turm aus wurden alle Bewegungen überwacht. Das
gesamte Wachpersonal war bewaffnet und hatte Schießbefehl."
Höchste
Sicherheitsstufe für einen Ort, an dem die tödlichsten aller chemischen
Kampfstoffe hergestellt und gelagert wurden. Darunter befand sich auch
das Nervengas Sarin. Es ist 500 Mal toxischer als Zyanid und soll von
syrischen Regierungstruppen im Bürgerkrieg mehrfach eingesetzt worden
sein.
"Schaum kam aus Mund und Nase"
Am 23. Dezember
2012 meldeten die Rebellen aus Homs zum ersten Mal einen chemischen
Angriff. Syrische Ärzte diagnostizierten damals Atemnot, Nervenleiden
sowie Magen- und Darmbeschwerden. Vertreter der US-Regierung führten das
auf den "unsachgemäßen Gebrauch von Gasgranaten" zurück. Am 19. März
diesen Jahres starben 32 Menschen in Khan al-Assal, einem Ort westlich
von Aleppo.
Da unter den Toten auch Regimesoldaten waren, behauptete der syrische Präsident Baschar al-Assad,
"islamistische Terroristen" hätten dort chemische Waffen eingesetzt.
Syrischen Staatsmedien zufolge explodierte eine von Islamisten selbst
gebaute Rakete, in deren Sprengsatz sich Chlorine (CL17) befunden
hätten. Am 13. April wurden in Scheich Maksud, einem Stadtteil von
Aleppo, mehrere Menschen "vergiftet".
Aus einer
Granate seien Rauch und Gase ausgeströmt, hieß es. "Ärzte und Bewohner
starben, als sie den Opfern zu Hilfe kommen wollten", erinnert sich
Doktor Safuan. "Schaum kam aus dem Mund und aus der Nase."
Hubschrauber werfen Plastikgranaten ab
Mehr als einen
Monat nach dem Vorfall übergibt der 22-jährige Mediziner Blutproben der
Opfer an ein französisches Fernseh-Team. "Sie packten unsere gekühlten
Proben in eine normale Plastiktüte", erzählt der Arzt. Zur Überraschung
der Journalisten interessiert sich zu Hause niemand für ihr Mitbringsel
aus Syrien.
Das französische Außenministerium ist bereits im Besitz von Proben. Ein Team der französischen Tageszeitung "Le Monde" schmuggelte Urin-, Blut- und Kleiderproben aus Damaskus ein, die von einer Chemieattacke im Stadtteil Jobar stammten.
Ein zweites
Paket kam aus Sarakeb, einer Stadt in der Provinz Idlib. Das
Außenministerium in Paris bestätigte, man habe sie von "einem syrischen
Arzt" erhalten, machte aber keine näheren Angaben, wie sie nach
Frankreich gelangten. Die Vermutung liegt nahe, dass die Proben auf
"Geheimdienstwegen" transportiert worden sind. In Sarakeb hatte ein Hubschrauber der syrischen Luftwaffe zwei Behälter abgeworfen, in denen sich – wie schon in Scheich Maksud und in Homs – weiße Plastikgranaten befanden.
Eine Frau starb
bei dem Angriff. 13 weitere Personen wurden verletzt und zur Behandlung
in ein Krankenhaus der türkischen Grenzstadt Reyhanli eingeliefert.
Noch am gleichen Tag nahm man dort Blutproben der Opfer. Die Ärzte
konnten jedoch weder Spuren von Sarin noch sonst etwas Außergewöhnliches
entdecken.
Aus "geringer" Überzeugung wird "hohe"
Am 6. Juni
verkündete der französische Außenminister Laurent Fabius: "Nach
Labortests besteht Gewissheit, Syrien hat Sarin-Gas mehrfach lokal
begrenzt eingesetzt." Mit der Bekanntmachung der positiven Sarin-Tests, die Frankreich an die Vereinten Nationen sowie an die US-Behörden weiterleitete, kam das Weiße Haus unter Druck.
Die
US-Regierung hatte bisher gezögert, den Einsatz von chemischen
Kampfstoffen zu bestätigen. Nun sprach sie plötzlich von eigenen
Untersuchungen und Beweisen. Innerhalb kurzer Zeit wurde aus einer
"geringen Überzeugung" eine "hohe", dass das Regime in Damaskus
chemische Waffen benutzt habe. Mit dem Einsatz von Sarin sei die "rote
Linie" überschritten und Präsident Barack Obama kündigte an, "die Militärhilfe" an die Rebellen zu intensivieren und zu beschleunigen.
Was sind nun
die Testergebnisse, die der französischen Regierung vorliegen und die
Washington dazu bewogen haben, ihre Haltung im Syrien-Konflikt zu
ändern? Paris hat bisher darauf verzichtet, die Resultate zu
veröffentlichen und so Verschwörungstheorien gar nicht erst aufkommen zu
lassen. In Erinnerung sind noch die "Massenvernichtungswaffen" Saddam
Husseins im Irak, mit deren Existenz die US-Invasion 2003 gerechtfertigt
wurde, die aber nie gefunden werden konnten.
Proben zeigen nur niedrige Sarinwerte
Die
französischen Testergebnisse wurden lediglich bei einem informellen
Treffen preisgegeben. "Es sind zwischen 270 ng/ml und 1040 ng/ml", sagt
der Verantwortliche, der seinen Namen nicht genannt haben will.
Ausgewertet wurden drei Urinproben aus Jobar, die "Le Monde" lieferte,
sowie zwei Blutproben und eine Urinprobe, die auf "Regierungswegen" aus
Sarakeb kamen. Neben dem Metabolit Isopropylmethylphosphonsäure, wurde
regeneriertes Sarin von 9,5 Nanogramm pro Milliliter (ng/ml) und 3,3
ng/ml gefunden.
"Die Werte sind
nicht hoch", gibt man beim französischen Außenministerium zu. Aber sie
bestätigten eindeutig den Einsatz von Sarin. "Auch wenn es geringe
Mengen sind, das fällt unter psychologische Kriegsführung", meint der
zuständige Beamte. Das klingt plausibel. Nach all den Grausamkeiten, die
das Regime in Damaskus an der eigenen Bevölkerung begangen hat, würde
dieser Versuch der Panikmache nicht überraschen.
Aber ist es
tatsächlich so einfach? Sind Trupps der syrischen Armee landesweit in
Schutzkleidung unterwegs und verschießen Munition mit minimaler Dosis
Sarin? Etwas, das keinerlei militärischen Vorteil bringt und obendrein
das Eingreifen westlicher Staaten provoziert?
"Mit diesen Resultaten weiß man nicht viel"
"Die Resultate
sind sicherlich interessant", findet Stephen Johnson,
Chemiewaffenexperte von CBRNeWorld, einer Firma, die auf
Bedrohungsszenarien spezialisiert ist. "Vergleicht man aber die
Ergebnisse mit denen der Opfer des Sarin-Angriffs in der Tokioer U-Bahn
1995, ist der Wert der französischen Urintests um mehr als 1000-mal
geringer. Das ist schon sehr wenig."
Für den
Experten sind zudem noch andere bedeutende Sachverhalte ungeklärt, die
ein endgültiges Urteil erschweren: "Man braucht Vergleichsproben von
Nicht-Betroffenen. Man muss wissen, wie die Proben genommen und
transportiert wurden. Unter welchen Bedingungen liefen die Tests, wie
oft hat man sie wiederholt und waren die Instrumente richtig geeicht."
Wie schwierig
es sei, ein Urteil zu fällen, zeige das Golf-Kriegs-Syndrom, das lange
Zeit falsch diagnostiziert worden sei, fügt Johnson an. Der Stressfaktor
habe im Irak großen Anteil daran gehabt, dass die Blutproben teilweise
den Eindruck erweckt hätten, die US-Soldaten seien chemischen
Kampfstoffen ausgesetzt gewesen.
Auch für Paul,
den C-Waffenexperten der britischen Sicherheitsfirma Allen Vanguard,
steht fest: "Mit diesen Resultaten weiß man nicht viel." Um die
wirkliche Todesursache zu erfahren, hätte man mehrere Proben von jedem
Opfer nehmen müssen." Bei diesen niedrigen Werten könne es auch sein,
dass jemand zu viel Insektenspray versprüht habe. Insektensprays
basieren, wie Sarin, auf Pestiziden. "Unklar ist weiterhin auch", sagt
Paul abschließend, "mit welchen Waffen das Sarin verschossen worden sein
soll."
Granate spielt eine Schlüsselrolle
Die Skepsis der
beiden Experten würde ein ordentliches Gericht wohl teilen und die
französischen Testergebnisse nicht als Beweise anerkennen. Auch die
Vereinten Nationen können sie nicht akzeptieren. "Die Validität jeder
Information über vermeintliche Anwendung von chemischen Waffen hängt von
einem überzeugenden Beweis einer Kontrollkette ab", sagte
UN-Generalsekretär Ban Ki-moon.
Er meint damit
einen zweifelsfreien, sachgemäßen und überprüfbaren Transport der
Proben, von ihrer Entnahme von unabhängigen Medizinern bis hin zum
Testlabor. Bei den französischen Proben, wie auch bei allen anderen von
Geheimdiensten oder Journalisten organisierten, ist das nicht der Fall.
Die Proben wurden von Ärzten der Rebellen entnommen und übergeben.
Außerdem muss die Einhaltung der Kühlkette nachgewiesen werden.
Temperaturschwankungen können die Proben verfälschen.
Die beiden am besten dokumentierten Fälle von Angriffen mit Chemiewaffen sind jene von Sarakeb und Scheich Maksud,
dem kurdischen Stadtteil von Aleppo. Dazu gibt es eine Reihe von
Zeugenaussagen und Videos. Frankreich und die USA verweisen dezidiert
auf diese Orte in ihrer Beweisführung für den Einsatz von Sarin.
Normalerweise werden chemische Kampfstoffe mit Raketen oder
Artilleriegeschützen verschossen.
In Sarakeb und
Scheich Maksud ist in Rebellenvideos und Fotos jedoch eine weiße
Plastikgranate als Geschoss zu sehen. Diese Granate soll auch mindestens
noch in einem weiteren Fall benutzt worden sein. Sie spielt offenbar
eine Schlüsselrolle bei chemischen Angriffen.
Fünf befragte
Militärexperten aus vier verschiedenen Ländern sind sich einig, dass es
sich um eine Rauch- oder Tränengasgranate handelt, wie sie bei
Demonstrationen eingesetzt wird. Nur für den Transport von flüssigem
Sarin ist diese, auf Pyrotechnik basierende Granate, ungeeignet. "Zum
Hersteller und zum Herkunftsland lassen sich keine belastbaren Aussagen
treffen", kommentierte die Bundeswehr, der ein Foto der Granate vorlag.
Aufgrund fehlender Beschriftung kann auch nicht ausgeschlossen werden,
dass es sich um eine Munition handelt, die nicht in einer dazu
autorisierten Fabrik hergestellt worden ist."
Angebliches Sarin könnte Beruhigungsmittel sein
Der "Welt" ist
es nun gelungen, weitere Exemplare dieses Granatentyps ausfindig zu
machen. Im Hauptquartier der radikal-islamistischen Gruppe Jabhat
al-Nusra zeigte ein Kämpfer bereitwillig ein Exemplar. "Das ist eine
Rauchgranate", sagt er und fügt hinzu, "wir haben sie vom Regime
erbeutet." Wenige Tage danach berichtet ein Waffenkurier der FSA, der
zwischen Aleppo und der türkischen Grenze pendelt, er habe die
mysteriöse Granate während seines Militärdienstes gesehen.
"Eliteeinheiten
der vierten Division trainierten damit in Daraa", versicherte der
22-jährige Anis. Von seinem Offizier wisse er, es seien Rauch-Granaten,
die aus dem Iran stammten und ein Nervenberuhigungsmittel für
Randalierer enthielten. "Dass es womöglich in Syrien nicht um Sarin,
sondern um andere chemische Verbindungen geht, wäre eine plausible
Erklärung", meint Johnson von CBRNeWorld. "Das würde erklären, warum es
bei allen Vorfällen so wenig Todesfälle gab, was für Sarin untypisch
ist."
Für die
Rebellen in al-Safireh ist die Diskussion über chemische Waffen im
Westen nicht nachvollziehbar. "Was macht das für einen Unterschied, ob
sie uns mit normalen Waffen oder mit Chemie töten", fragt Yosef
aufgebracht. Bei ihnen an der Front gibt es keine einzige
Atemschutzmaske. "Das chemische Zeug wurde längst aus dem Militärkomplex
in großen Lkw weggeschafft", erläutert Kommandant Abu Mahmud.
"Und wenn sie
uns doch damit angreifen, vertrauen wir auf Gott, der uns beschützt",
sagt Yosef und weist lachend auf die Wand. Dort hängt eine weiße Fahne
mit dem muslimischen Glaubensbekenntnis hängt: Es gibt keinen Gott außer
Allah und Mohammed ist sein Prophet.
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