Tunesien kommt nicht zur Ruhe. Im ländlichen Sidi Bousid,
der Wiege der "Jasminrevolution", gibt es gewalttätige Proteste. Denn
hier hat sich für die Menschen nicht viel verbessert. Von Alfred Hackensberger
Sie blieben bis in die
späte Nacht. Über 10.000 Menschen gingen im Zentrum von Tunis auf die
Straße, um gegen die islamistische Regierungspartei Ennahda zu
protestieren. "Genug mit der Regierung, genug mit Ghannouchi",
skandierte die Menge und meinte den Führer der Partei, Raschid
Ghannouchi. Tunesien kommt nicht mehr zur Ruhe, seit der Oppositionspolitiker Mohammed Brahmi am vergangenen Donnerstag mit 14 Schüssen vor seinem Haus niedergestreckt wurde.
Es war bereits das zweite politische Attentat in diesem Jahr und löste
eine Welle des Protestes aus. Zur Beerdigung Brahmis waren
Hunderttausende gekommen. Sein Tod ließ die Spannungen zwischen dem
säkularen Teil der Gesellschaft und den Islamisten neu aufflammen. Mit
den nicht endenden Protesten verschärft sich die Lage in Tunesien von
Tag zu Tag.
Die Opposition
will den "Sturz der Mörder". Sie macht die Ennahda für das Attentat an
Brahmi verantwortlich. Der 58-jährige Parlamentsabgeordnete der Partei
der Volksfront war ein entschiedener Kritiker der Islamisten. Nicht
minder wie Schokri Belaid, der im Februar mit der gleichen Tatwaffe und
ähnlichen Umständen ermordet worden war.
Die Ennahda wies
alle Verdächtigungen entschieden zurück. Parteiführer Raschid
Ghannouchi sprach von "einem Versuch, den demokratischen Prozess in
Tunesien aufzuhalten und das einzig positive Modell in der Region zu
zerstören". Als Attentäter in beiden Mordfällen benannte
Ennahda-Innenminister Lotfi Ben Jeddu die radikal-islamische Gruppe
Ansar al-Scharia, legte aber keine konkreten Beweise vor. Die
al-Qaida-nahe Gruppe dementierte jedoch auf ihrer Web-Seite und lehnte
jede Verantwortung an den Morden ab.
Hauptverdächtiger offenbar aus Frankreich
Die tunesischen
Behörden haben jedoch einen Hauptverdächtigen für beide Morde im Visier.
Er stammt offenbar aus Frankreich und saß dort zwischenzeitlich wegen
Gründung einer Dschihad-Gruppierung im Gefängnis. Bei Bubaker al-Hakim
handle es sich "sehr wahrscheinlich" um einen in Paris geborenen
Islamisten gleichen Namens, verlautete am Montag aus informierten
Kreisen in Paris. Der 30-Jährige war demnach 2008 wegen Gründung einer
Gruppe, die Männer für einen Kampf gegen die US-Besatzer im Irak
rekrutierte, zu sieben Jahren Haft verurteilt worden.
Bereits 2011 sei
al-Hakim aus dem Gefängnis entlassen worden, verlautete aus den
informierten Kreisen. Seitdem wurden in Frankreich keine neuen
Ermittlungen gegen ihn aufgenommen. Al-Hakim hatte auch selbst im Irak
gekämpft. In mehreren Reportagen, die französische Fernseh-Teams im Irak
drehten, rief er seine "Brüder" in Paris dazu auf, seinem Beispiel zu
folgen.
Arbeitslosenquote teilweise bei 80 Prozent
In Tunis waren
die Proteste, außer dem Tränengaseinsatz der Polizei, durchweg friedlich
geblieben. Anhänger der Ennahda und der Opposition trafen zwar
aufeinander, aber die Sicherheitskräfte hielten sie streng getrennt. Zu
gewalttätigen Konfrontationen mit der Polizei war es jedoch in Sidi
Bousid gekommen. Die Stadt gilt nach der Selbstverbrennung eines
Obstverkäufers als Wiege der "Jasminrevolution" und des gesamten
"arabischen Frühlings". Sidi Bousid ist jedoch auch die Geburtsstadt des
ermordeten Politikers Brahmi. Autoreifen wurden angezündet und
Polizisten mit Steinen beworfen.
Die Stadt auf
dem Lande im Süden Tunesiens ist bezeichnend für die anhaltende
wirtschaftliche Misere. Es ist eine verarmte Region, in der sich nach
der Revolution und mit einer islamistischen Regierung wenig veränderte.
"Nichts hat sich hier getan", sagte ein Bauer, der damals wie heute
nicht weiß, wie er überleben soll. Offiziell liegt in Tunesien die
Arbeitslosenquote bei 18 Prozent. "In den ärmsten Regionen kann sie bis
auf 80 Prozent gehen", versicherte Mohammed Mselmi, der Generalsekretär
der größten Gewerkschaft, UGTT. "Auf dem Land hat alles angefangen, und
nun verbreitet sich hier das Gefühl, die Revolution wurde ihnen
gestohlen."
In Tunis trat
die Parteiführung der Ennahda am Montag zu einer Krisensitzung zusammen
und setzte Neuwahlen an. Als Wahltermin wurde der 17. Dezember genannt,
zugleich schloss Regierungschef Ali Larayedh am Montag einen vorzeitigen
Rücktritt seiner Regierung aus.
Zuvor waren
Bildungsminister Salem Labiadh und 70 Mitglieder der verfassungsgebenden
Versammlung bereits von ihrem Amt zurückgetreten. Sollten sich noch
drei weitere Abgeordnete zu einem Rücktritt entschließen, wäre das
Gremium handlungsunfähig. Es könnte keine Zweidrittelmehrheit zustande
kommen, die nötig ist, um über eine neue Verfassung zu bestimmen.
Tunesien wartet seit über einem Jahr vergeblich auf ein neues
Grundgesetz. Erst danach ist der Weg frei für Parlaments- und
Präsidentenwahlen.
Militär will "apolitische Rolle" spielen
Am Montag
diskutierte auch die Gewerkschaft UGTT, wie man sich in der Krise weiter
verhalten werde. "Wir beraten über die Zukunft des Landes", sagte
Generalsekretär Sami Tahri selbstbewusst. Der Gewerkschaftsverband weiß
um seine Macht, hat er doch beim Sturz des Diktators Ben Ali eine
entscheidende Rolle gespielt. Ennahda steht nicht nur unter dem Druck
der Straße, sondern auch unter jenem der tunesischen säkular
orientierten Zivilgesellschaft. Wenn sich Gewerkschaften, Politiker und
Demonstranten solidarisieren und ein gemeinsames Konzept haben, hat es
selbst eine demokratisch gewählte Regierung schwer, sich durchzusetzen.
Das Militär
Tunesiens hat letzte Woche am 57. Jahrestag seines Bestehens betont, man
werde "weiter eine völlig apolitische Rolle spielen". Als dem
Autokraten Ben Ali während der Revolution 2011 das Wasser bis zum Hals
stand, wollte er die Armee instrumentalisieren. Sie sollte auf
Demonstranten schießen, lehnte dies aber ab. Stattdessen beschränkte sie
sich darauf, Regierungsgebäude zu bewachen, sowie Recht und Ordnung auf
den Straßen zu gewährleisten.
"Wir opfern unser Blut für Mursi"
In Ägypten ist
die Rolle des Militärs eine völlig andere. In der 38-jährigen Herrschaft
von Präsident Husni Mubarak war es bestimmende Kraft des Staates.
Während der Revolution übernahm ein Militärrat Regierungsfunktionen. Als
es Massenproteste gegen den ersten demokratisch gewählten Präsidenten
Mohammed Mursi gab, entschied sich die Armee, ihn kurzerhand am 3. Juli
abzusetzen und eine Übergangsregierung festzulegen.
Die Anhänger
Mursis wollen den Staatsstreich nicht hinnehmen. Alleine am vergangenen
Wochenende wurden über 70 Unterstützer Mursis bei Demonstrationen
getötet. Aber sie lassen sich nicht einschüchtern. Am Montag starteten
sie einen Marsch auf das Hauptquartier des militärischen Geheimdienstes.
Auf Plakaten stand geschrieben: "Wir opfern unser Blut und unsere
Seelen für Mursi". Am Dienstag soll eine "Eine-Million-Demonstration" in
Kairo folgen.
Wie ernst die
Lage in Ägypten ist, unterstreicht auch der erneute Besuch der
EU-Außenbeauftragten in Kairo. Am Montag sprach Catherine Ashton mit
Vertretern der Muslimbruderschaft sowie mit Abdel Fattah al-Sisi, dem
Armeegeneral, der den Putsch gegen den Präsidenten anführte. Die
EU-Beauftragte hatte mehrfach die Freilassung Mursis gefordert. Ob
Ashton allerdings viel Einfluss auf den General ausüben konnte, steht zu
bezweifeln. Die Militärs denken über eine Erklärung des Notstands nach.
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