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"Ein koordinierter Angriff aus mehreren Richtungen"

Eliot Higgins gilt als der bestinformierte Waffenexperte des syrischen Bürgerkriegs. Der Blogger bildet aus vielen kleinen Beweisstücken ein großes Bild – so auch bei der Giftgas-Attacke in Damaskus. Von
Eliot Higgins wertet öffentlich zugängliche Quellen über den Syrien-Krieg aus
Eliot Higgins wertet öffentlich zugängliche Quellen über den Syrien-Krieg aus
 
Der Brown-Moses-Blog ist zur wichtigen Informationsquelle über den syrischen Bürgerkrieg geworden. Sein Betreiber, Eliot Higgins, wertet alle öffentlich zugänglichen Quellen aus und prüft sie auf Plausibilität.
Die Welt: Im März 2012 begannen Sie den Brown Moses Blog als Hobby. Heute gelten Sie als der bestinformierte Waffenexperte des syrischen Bürgerkriegs. Sie haben den Einsatz von Streubomben durch das Regime aufgedeckt sowie geheime Waffenlieferungen an die Rebellen, bei denen Saudi-Arabien und die CIA beteiligt waren. Wie machen Sie das?
Eliot Higgins: Ich benutze öffentlich zugängliche Quellen wie YouTube, Facebook und Twitter, um herauszufinden, was vor Ort passiert. Im Gegensatz zu Geheimdiensten veröffentliche ich alles, was ich herausgefunden habe, und das so transparent wie möglich.
Die Welt: Medien wie Menschenrechtsorganisationen bezeichnen Sie als Pionier. Warum werten nicht mehr Leute Informationen aus dem Internet aus?
Higgins: Ich glaube, Geheimdienste und private Sicherheitsfirmen arbeiten ebenfalls daran. Aber im Falle von Syrien scheint es weit mehr Interesse von NGOs und Journalisten zu geben als gewöhnlich. Es findet gerade ein Lernprozess statt, wie man Informationen erhält und wie man mit ihnen umgeht.
Die Welt: Im Internet gibt es Tausende von Videos zu Syrien. Wie kann man da einen klaren Kopf behalten?
Higgins: Es werden jeden Tag über 100 Videos hochgeladen. Ich habe rund 600 YouTube-Kanäle von Aktivisten, Medienzentren und bewaffneten Gruppen abonniert. Ich habe ein gutes Auge, was für meine aktuelle Untersuchung interessant ist. Ich sehe sie mir an, wenn sie hochgeladen werden, habe genug Zeit, sie in aller Ruhe nach Brauchbarem zu sichten.
Die Welt: Heutzutage kann man jede Art von Bildmaterial manipulieren. Wie stellen Sie fest, was authentisch und was möglicherweise eine Fälschung ist?
Higgins: Um die Authentizität zu überprüfen, kann man einiges tun. Zum Beispiel benutzt man Satellitenaufnahmen, um den exakten Standort zu finden, an dem das Video gedreht wurde. Oder man überprüft vorherige Veröffentlichungen der Gruppe auf sozialen Netzwerken, um festzustellen, ob es wirklich die Gleichen sind, die das neue Video hochgeladen haben.
Der größte Teil meiner Arbeit besteht darin, viele kleine Beweisstücke zu sammeln und daraus ein großes Bild zu machen. Es geht nicht nur um ein Video, sondern um viele verschiedene Informationen, die am Ende einen Schluss zulassen.
Die Welt: Im libyschen Bürgerkrieg waren die technologischen Voraussetzungen bereits vorhanden. Aber dort wurden lange nicht so viele Videos ins Internet gestellt wie in Syrien. Was ist der Grund für diese Masse von Videos?
Higgins: In Syrien wurde das Internet nicht abgestellt, wie das in Libyen geschehen ist. Syrer können online gehen und soziale Netzwerke benutzen. In vielen Gegenden haben lokale Gruppen Telefone und Internet über Satellitenanschluss. Videos werden aus einer ganzen Reihe von Motiven produziert. Ein Teil ist Propaganda, einige sind Werbung, andere Leute wollen nur ihr Leben dokumentieren. Aber alle liefern einen nützlichen Einblick in die Situation im Land.
Die Welt: Die Videos sind oft nur ein, zwei Minuten lang. Ihr Einfluss auf die öffentliche Meinung kann jedoch immens sein, wenn man an die Bilder vom Rebellen als Kannibalen denkt. Ist das eine neue Kriegsvideokultur, die wichtiger wie der Konflikt und die Menschen selbst wird?
Higgins: Die meisten Videos sind generell nicht anders als diejenigen, die die Mainstream-Medien aufgreifen und die dann epidemisch werden. Definiert ein Video den ganzen Konflikt? Natürlich nicht! Nur, wenn es 100.000 Mal auf YouTube gesehen und von Fernsehsendern gezeigt wird, dann entsteht der Eindruck, als würde es den Konflikt widerspiegeln.
Es scheint so, als würden viele Medien nur die sozialen Netzwerke nach den populärsten Videos abklappern. Im Kriegsfall sind das die unglaublich schrecklichen Bilder.
Die Welt: Wie gehen Sie mit diesen Bildern um? Sie sehen jeden Tag Gräueltaten.
Higgins: Man muss sich auf die Arbeit konzentrieren und die Emotionen beiseitelassen. Wenn ich mich gehen lassen würde, wäre ich nur ein Blogger mehr, der etwas veröffentlicht, um für die eine oder andere Seite Partei zu ergreifen. Mir geht es aber nicht um Meinung, sondern um Fakten.
Die Welt: Nach dem mutmaßlichen Chemieangriff in Damaskus wurden Hunderte von schockierenden Videos ins Netz gestellt. Hätte es ohne diese Bilder womöglich keine Diskussion über eine Militärintervention gegeben?
Higgins: Die Videos machen alles realer. Aufgereihte tote Kinder in einem Video sind schwieriger zu ignorieren, als wenn man von ihnen in der Zeitung liest. Ich glaube, ohne die Videos wäre es noch schwieriger, als es jetzt schon ist, die Unterstützung für einen militärischen Eingriff zu bekommen.
Die Welt: US-Außenminister John Kerry sagt, er habe Beweise, dass der chemische Kampfstoff Sarin eingesetzt wurde. Sie haben den Fall untersucht und mit einer Reihe von Spezialisten besprochen. Was sagen Sie dazu?
Higgins: Ich würde gerne die Resultate sehen, wissen, wie man zu den Ergebnissen kam und ob alle Regeln eingehalten wurden. Sie könnten Ergebnisse von etwas haben, das falsche positive Resultate produziert. Wir haben keine Ahnung, wer die Proben manipuliert haben könnte. Möchte man darüber diskutieren, braucht man mehr Infos. Aber es gab ja ein UN-Team in Syrien. Ihre Tests könnten nähere Aufschlüsse geben.
Die Welt: Die UN-Inspektoren haben Fotos von Granaten in Damaskus gemacht. Könnte diese Art von Munition chemische Kampfstoffe enthalten haben?
Higgins: Indizien deuten darauf hin, dass zwei Versionen dieser Munition benutzt wurden. Eine davon ist hochexplosiv, die andere ist dazu gebaut, eine Ladung von Flüssigkeit oder Gas zu tragen. Letztere Version war bereits mit früheren Chemieangriffen in Verbindung gebracht worden.
Sollten die Tests der UN bestätigen, dass Chemiewaffen eingesetzt wurden, dann ist es die genannte Munition, die höchstwahrscheinlich den Kampfstoff beinhaltete. Und diese Munition scheint ausschließlich von den Regierungstruppen benutzt zu werden.
Die Welt: Der Iran behauptet, die Munition, mit denen der Chemienangriff ausgeführt wurde, sei nicht professionell produziert und könnte deshalb nicht aus Armeebeständen stammen. Kann das stimmen?
Higgins: Ich habe eine lange Liste dieser Munition dokumentiert, wie sie von den syrischen Regierungstruppen im Laufe des Konflikts immer wieder benutzt wurde. Es gibt keinerlei Hinweise, dass sie von der Opposition benutzt worden wäre. Ich würde gerne die Beweise der Iraner sehen.
Die Welt: Russland behauptet, die Rebellen hätten chemische Waffen benutzt und ihre eigenen Leute getötet. Es gibt Videos im Netz, in denen ein Hase vergast wird oder Rebellengruppen mit Chemieattacken drohen.
Higgins: Das Hasenvideo wurde auf einem Kanal gepostet, der von keiner Gruppe benutzt wird. Jeder könnte es hochgeladen haben. Ich glaube, man kann das nicht ernst nehmen.
Ich habe es schon vorher gesagt, die syrische Armee hat eine lange Geschichte im Gebrauch dieser Munition. Und das war ein koordinierter Angriff. Es wurden nicht nur einige wenige Granaten willkürlich zu Propagandazwecken verschossen.
Die Welt: Die Rebellen haben von der syrischen Armee alle nur erdenklichen Waffen und Munition erbeutet. Könnten diese besagte Munition nicht darunter gewesen sein?
Higgins: Der Angriff kam aus mehreren Richtungen. Das ist militärisch nicht einfach zu machen. Wenn man die existierenden Fakten nimmt und Verschwörungstheorien beiseitelässt – es gibt wirklich nichts, das in Richtung Rebellen als Täter deutet.
Die Welt: Aus Ihrem Hobby ist längst ein Fulltimejob geworden. Wie finanziert man das?
Higgins: Am Anfang war ich arbeitslos und habe mit Indiegogo im Internet Spenden gesammelt. Das Geld reicht bis zum Jahresende. Ich hoffe, aus meiner jetzigen Arbeit entwickelt sich etwas Neues. Es gibt schon einige Projekte.
Die Welt: Was sagte eigentlich Ihre Frau dazu, dass ihr Mann ständig Kriegsvideos mit seltsamen bärtigen Figuren ansieht?
Higgins: Sie fragt hauptsächlich, wann ich denn endlich anfange, mir einen richtigen Job zu suchen.

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