Das Radio-Machen lernte Siruan Hossein in
Nordrhein-Westfalen. Jetzt senden er und sein Team mitten aus dem
syrischen Bürgerkrieg, aus einer Stadt im Kurdengebiet. Jeder Beitrag
ist unzensiert. Von Peter Steinbach, Amuda
"Und nun, meine Zuhörer,
wünscht sich Sultana das Lied ,Haho'", sagt die Moderatorin ins
Mikrofon, "und wer es nicht mehr wissen sollte", ergänzt sie, "der Song
ist von Abdel Hosni." Der Tontechniker spielt die Musik des kurdischen
Sängers ein. Die Moderatorin Beriwan Ide wippt im Takt. Es ist das
tägliche Wunschkonzert auf Arta.FM,
einem neuen syrischen Radiosender. Anschließend geht es um
Frauenrechte, Psychologie und Eminem, den Hip-Hopper aus dem
US-Bundesstaat Missouri. Jeder Beitrag geht unzensiert über den Äther.
Für Syrien ist das eine Revolution.
Wo Diktator Baschar al-Assad
noch herrscht, wäre das nicht möglich. Die Geheimpolizei würde die
Radiomacher sofort verhaften. Aber selbst in von den Rebellen
kontrollierten Gebieten wäre so etwas wie Arta.FM kaum denkbar. Der
Sender tritt für die Gleichberechtigung aller ethnischen wie religiösen
Minderheiten in einem säkularen Staat ein. Das sind Prinzipien, die
radikale Islamisten der Nusra-Front oder des Islamischen Staats im Irak
und der Levante (Isil) nie dulden. Aber auch für die als moderat
geltende Freie Syrische Armee (FSA) wäre das unabhängige Radio ein
Affront.
Kurden sind bekannt für Toleranz
Arta.FM sendet
seit dem 6. Juli aus Amuda, einer Kleinstadt mit 50.000 Einwohnern. Der
Ort liegt im Kurdengebiet im Nordosten des Landes. Die Kurden, die etwa
zehn Prozent der syrischen Gesellschaft ausmachen, sind bekannt für
Toleranz und ihren offenen Lebensstil. "Selbst im heiligen Fastenmonat
Ramadan trinken viele Alkohol", sagt Siruan H. Hossein, der Gründer und
Manager von Arta.FM. "Wenn man ein unabhängiges Radio will, dann geht
das nur im Kurdengebiet und nur in Amuda", hält Hossein fest, der ab
seinem 13. Lebensjahr in Deutschland aufgewachsen ist. "Amuda war schon
immer ein liberaler Ort, wo sich Künstler und Intellektuelle getroffen
haben."
Hosseins Vater
musste 1990 aus politischen Gründen Syrien verlassen. Damals herrschte
noch Hafis al-Assad, und er war nicht weniger brutal als sein Sohn. "Bei
meiner Ausreise am Flughafen von Damaskus riet mir ein Polizist, mich
noch einmal genau umzusehen", erinnert sich Hossein. "Nach dem Motto:
Genieß den letzten Blick, denn du wirst deine Heimat nie mehr
wiedersehen." Es dauerte 23 Jahre, bis Hossein im Bürgerkrieg in seine
Heimat zurückkehrte und sich seinen lang gehegten Wunschtraum erfüllte:
einen eigenen Radiosender.
"Irgendjemand muss ja damit anfangen."
"Unser Projekt
soll ein Beispiel für die Zukunft sein", erklärt der Deutsch-Syrer,
"dafür, wie alle konstruktiv zusammenleben können und man sich nicht die
Köpfe einschlagen muss." Seit Beginn des Bürgerkriegs 2011 sind in
Syrien weit mehr 100.000 Menschen ums Leben gekommen. Der Konflikt wird
von allen Parteien mit zunehmender Brutalität ausgetragen. Religiöse
sowie ethnische Zugehörigkeit spielen mehr und mehr eine Rolle. Dem will
Arta.FM entgegenwirken. "Obwohl es fast unmöglich erscheint, versuchen
wir es trotzdem", sagt Hossein. "Irgendjemand muss ja damit anfangen."
Arta.FM sendet
13 Stunden täglich, und das dreisprachig: auf Arabisch, Kurdisch und
Sirac, der modernen Form des antiken Aramäisch, die Teile der
christlichen Bevölkerung sprechen. "Wir sind multikulti, und jeder kann
sagen, was er will – vorausgesetzt, er hält sich an die Spielregeln von
Toleranz und gegenseitigem Respekt." Der Erfolg des Radios gibt seinem
Konzept recht. Etwa 500.000 Menschen können Arta.FM hören. In wenigen
Wochen soll eine neue Sendeanlage installiert werden, mit der man dann
ein Publikum von mehr als einer Million Menschen erreichen soll.
Journalismus, der sich nicht vereinnahmen lässt
Von dem Vorwurf,
sein Radio sei ein Kurdensender, will Hossein nichts wissen. "Wir
gehören zu keiner politischen Partei, keiner religiösen oder ethnischen
Gruppe. Wir machen Journalismus, der sich von niemandem vereinnahmen
lässt." Diese Maxime ist nicht ganz nach dem Geschmack der kurdischen
Demokratischen Unionspartei (PYD). Sie beansprucht das Vertretungsrecht
für alle Kurden und würde auf Arta.FM gerne Propaganda in eigener Sache
hören.
Die Milizen der
Partei kämpfen gegen die Islamisten von Nusra und Isil, die seit fünf
Monaten versuchen, in das Kurdengebiet im Nordosten Syriens
einzudringen. Die Region, die sich entlang der türkischen Grenze bis zum
Irak erstreckt, hat strategische und ökonomische Bedeutung. Sie bietet
Zugang zu den Nachbarländern, über die der Nachschub laufen kann. Es
gibt Ölquellen und Gasvorkommen, die lukrative Geschäfte versprechen.
Ganz abgesehen davon, finden die Extremisten angeblich religiöse Gründe,
um gegen die Kurden vorzugehen: Wegen ihrer meist liberalen und
säkularen Einstellungen verteufeln die Al-Qaida-Gruppen Kurden als
Ungläubige.
Die Polizei hat nichts gegen das Radio
"Die PYD hätte
gern, dass wir ihre getöteten Kämpfer als Märtyrer bezeichneten",
erzählt Hossein. "Aber damit würde man werten, und das ginge gegen
unsere journalistischen Prinzipien." Jetzt habe man sich auf die Formel
geeinigt: "Sie haben ihr Leben verloren." Damit könne man problemlos
leben, meint der Manager von Arta.FM. Anscheinend kann das auch die PYD.
Der Polizeichef von Amuda versichert mehrfach: "Nein, nein, wir haben
überhaupt nichts gegen das Radio. Wir lassen alle Meinungen zu." In
seinem Büro hängen Poster der PYD und einige Bilder von Märtyrern. In
der Weste des Parteipolizisten stecken ein Bajonett und Magazine für die
Kalaschnikow.
In einem der
drei Redaktionsräume von Arta.FM steht der Sendeablauf auf einer weißen
Tafel an der Wand. Themenschwerpunkt des kurdischsprachigen Programms
sind heute Gefängnisinsassen. Leitfrage: "Wie geht die Gesellschaft mit
ihnen um?" Dazu gibt es ein Interview mit einem Anwalt und eine
Straßenumfrage. Im arabischen Segment wird der Frage nachgegangen: "Wie
entwickelt man eine starke Persönlichkeit?"
Das Geräusch von Bomben und Mörsern
An einem der
Tische der Redaktion arbeitet Runnida Schweisch. Die studierte
Psychologin erstellt Horoskope, berichtet über Gewalt in der Familie
oder Depressionen nach der Geburt eines Kindes. Besonders mitgenommen
ist die 26-Jährige durch ihren neuen Beitrag über mentale Probleme im
Bürgerkrieg. "Es ist nicht leicht, den Geräuschen von Bomben, Mörsern
und Flugzeugen zuhören zu müssen", erklärt Schweisch, der dabei Tränen
über die Wangen laufen. "Bei jedem Laut denkt man daran, dass ein
Menschen getötet oder schwer verwundet wurde", sagt sie schluchzend.
Vor 14 Monaten
ist sie mit ihrer Familie aus Aleppo nach Amuda, in den Heimatort ihrer
Großmutter geflüchtet. "Unser Viertel lag zwischen den Fronten, es wurde
von Regierungstruppen und Rebellen gleichzeitig getroffen." Sie
vermisse ihre Freundinnen schrecklich, gibt Schweisch zu, die in Aleppo
mit geistig Behinderten gearbeitet hatte. "Die Arbeit hier beim Radio
ist wunderbar, obwohl ich noch viel zu lernen habe."
"Wir haben eine wichtige Aufgabe"
Begeisterung
ist auch allen anderen Radiomitarbeitern anzumerken. Mit viel Engagement
arbeiten sie auch noch am Ende eines Tages an ihren Beiträgen. Seit dem
Beginn des Bürgerkriegs hatten sie keine Arbeit. "Nun haben wir wieder
eine Aufgabe, die spannend und wichtig ist", sagt Beriwan Ide, die das
Wunschkonzert moderiert. "Viele andere sind aus Amuda in die Türkei
gegangen oder anderswohin. Aber wir bleiben, und wir haben eine schöne
und wichtige Aufgabe."
Die insgesamt
45 Mitarbeiter verdienen in der Regel umgerechnet 150 Euro im Monat. Für
syrische Verhältnisse und mitten im Bürgerkrieg ist das kein schlechtes
Einkommen. "Keiner meiner Leute hat wirklich geglaubt, dass sie ihre
Gehälter wirklich pünktlich bekommen. Das ist die Ausnahme in Syrien",
meint Hossein, der Manager. "Natürlich waren alle positiv überrascht,
als sie ihr Geld in Händen hielten."
Finanziert wird Arta.FM mit Geldern der US-Regierung und einer schwedischen NGO, die von Syrern gegründet wurde. Die deutsche Konrad-Adenauer-Stiftung
hat sich ebenfalls entschieden, das Projekt in Amuda zu fördern. "Von
unseren Geldgebern werden wir nicht beeinflusst", beteuert Hossein. "Die
einzige Vorgabe ist, dass wir Gewalt nicht befürworten dürfen. Aber das
täten wir ohnehin nicht."
Mit "deutschen Tugenden" führt er das Radio
Der
Radiomanager hat sein journalistisches Know-how beim WDR gelernt, und er
sei "überaus dankbar" dafür, betont Hossein. "Mit Ordnung und
Disziplin" führe er sein Radioprojekt. Für seine Mitarbeiter sei es
manchmal nicht einfach, sich an die "deutschen Tugenden" zu gewöhnen,
sagt er leicht amüsiert.
Hossein hat
seine Frau und den zweijährigen Sohn vorübergehend in Münster
zurückgelassen. Nach fast drei Monaten in Syrien werde es wieder Zeit,
nach Deutschland zurückzukehren. "Aber ich könnte mir gut vorstellen, in
Amuda zu leben. Es ist einfach eine wunderbare Stadt", schwärmt er. Das
klingt, als wüsste er nicht, dass keine Autostunde von seiner
Traumstadt entfernt schwer gekämpft wird. Bisher ist Amuda vom Krieg
verschont geblieben. Aber die friedliche Idylle kann jederzeit
zerbrechen.
Auf dem
Märtyrer-Friedhof Ismail, der für die Toten im Kampf gegen radikale
Islamisten neu eingerichtet wurde, erkennt man, wie nah der Krieg schon
gekommen ist. Dort liegt ein 80-jähriger Mann, der durch eine
Mörsergranate starb, als er die Moschee verließ. In sieben der insgesamt
15 Gräber liegen die Opfer einer Autobombe. Sie war am Checkpoint der
PYD-Soldaten explodiert, als sie gerade Mittag aßen. Dann ist da noch
der 25-jährige Alan Ferso. Er war in Gefangenschaft der Nusra-Front
geraten, die ihm den Kopf abschnitt. Trotzdem: Hossein will sich ein
Haus in seiner Geburtsstadt kaufen.
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