Direkt zum Hauptbereich

Ein syrisches Wunschkonzert im Radio

Das Radio-Machen lernte Siruan Hossein in Nordrhein-Westfalen. Jetzt senden er und sein Team mitten aus dem syrischen Bürgerkrieg, aus einer Stadt im Kurdengebiet. Jeder Beitrag ist unzensiert. Von
„Bei uns kann jeder sagen, was er will“, sagt Siruan H. Hossein (M., mit seiner Redaktion). Nicht jedem in seiner Heimat gefällt das
Foto: Victor Lacroix "Bei uns kann jeder sagen, was er will", sagt Siruan H. Hossein (M., mit seiner Redaktion). Nicht jedem in seiner Heimat gefällt das 
 
"Und nun, meine Zuhörer, wünscht sich Sultana das Lied ,Haho'", sagt die Moderatorin ins Mikrofon, "und wer es nicht mehr wissen sollte", ergänzt sie, "der Song ist von Abdel Hosni." Der Tontechniker spielt die Musik des kurdischen Sängers ein. Die Moderatorin Beriwan Ide wippt im Takt. Es ist das tägliche Wunschkonzert auf Arta.FM, einem neuen syrischen Radiosender. Anschließend geht es um Frauenrechte, Psychologie und Eminem, den Hip-Hopper aus dem US-Bundesstaat Missouri. Jeder Beitrag geht unzensiert über den Äther. Für Syrien ist das eine Revolution.
Wo Diktator Baschar al-Assad noch herrscht, wäre das nicht möglich. Die Geheimpolizei würde die Radiomacher sofort verhaften. Aber selbst in von den Rebellen kontrollierten Gebieten wäre so etwas wie Arta.FM kaum denkbar. Der Sender tritt für die Gleichberechtigung aller ethnischen wie religiösen Minderheiten in einem säkularen Staat ein. Das sind Prinzipien, die radikale Islamisten der Nusra-Front oder des Islamischen Staats im Irak und der Levante (Isil) nie dulden. Aber auch für die als moderat geltende Freie Syrische Armee (FSA) wäre das unabhängige Radio ein Affront.

Kurden sind bekannt für Toleranz

Arta.FM sendet seit dem 6. Juli aus Amuda, einer Kleinstadt mit 50.000 Einwohnern. Der Ort liegt im Kurdengebiet im Nordosten des Landes. Die Kurden, die etwa zehn Prozent der syrischen Gesellschaft ausmachen, sind bekannt für Toleranz und ihren offenen Lebensstil. "Selbst im heiligen Fastenmonat Ramadan trinken viele Alkohol", sagt Siruan H. Hossein, der Gründer und Manager von Arta.FM. "Wenn man ein unabhängiges Radio will, dann geht das nur im Kurdengebiet und nur in Amuda", hält Hossein fest, der ab seinem 13. Lebensjahr in Deutschland aufgewachsen ist. "Amuda war schon immer ein liberaler Ort, wo sich Künstler und Intellektuelle getroffen haben."
Hosseins Vater musste 1990 aus politischen Gründen Syrien verlassen. Damals herrschte noch Hafis al-Assad, und er war nicht weniger brutal als sein Sohn. "Bei meiner Ausreise am Flughafen von Damaskus riet mir ein Polizist, mich noch einmal genau umzusehen", erinnert sich Hossein. "Nach dem Motto: Genieß den letzten Blick, denn du wirst deine Heimat nie mehr wiedersehen." Es dauerte 23 Jahre, bis Hossein im Bürgerkrieg in seine Heimat zurückkehrte und sich seinen lang gehegten Wunschtraum erfüllte: einen eigenen Radiosender.

"Irgendjemand muss ja damit anfangen."

"Unser Projekt soll ein Beispiel für die Zukunft sein", erklärt der Deutsch-Syrer, "dafür, wie alle konstruktiv zusammenleben können und man sich nicht die Köpfe einschlagen muss." Seit Beginn des Bürgerkriegs 2011 sind in Syrien weit mehr 100.000 Menschen ums Leben gekommen. Der Konflikt wird von allen Parteien mit zunehmender Brutalität ausgetragen. Religiöse sowie ethnische Zugehörigkeit spielen mehr und mehr eine Rolle. Dem will Arta.FM entgegenwirken. "Obwohl es fast unmöglich erscheint, versuchen wir es trotzdem", sagt Hossein. "Irgendjemand muss ja damit anfangen."
Arta.FM sendet 13 Stunden täglich, und das dreisprachig: auf Arabisch, Kurdisch und Sirac, der modernen Form des antiken Aramäisch, die Teile der christlichen Bevölkerung sprechen. "Wir sind multikulti, und jeder kann sagen, was er will – vorausgesetzt, er hält sich an die Spielregeln von Toleranz und gegenseitigem Respekt." Der Erfolg des Radios gibt seinem Konzept recht. Etwa 500.000 Menschen können Arta.FM hören. In wenigen Wochen soll eine neue Sendeanlage installiert werden, mit der man dann ein Publikum von mehr als einer Million Menschen erreichen soll.

Journalismus, der sich nicht vereinnahmen lässt

Von dem Vorwurf, sein Radio sei ein Kurdensender, will Hossein nichts wissen. "Wir gehören zu keiner politischen Partei, keiner religiösen oder ethnischen Gruppe. Wir machen Journalismus, der sich von niemandem vereinnahmen lässt." Diese Maxime ist nicht ganz nach dem Geschmack der kurdischen Demokratischen Unionspartei (PYD). Sie beansprucht das Vertretungsrecht für alle Kurden und würde auf Arta.FM gerne Propaganda in eigener Sache hören.
Die Milizen der Partei kämpfen gegen die Islamisten von Nusra und Isil, die seit fünf Monaten versuchen, in das Kurdengebiet im Nordosten Syriens einzudringen. Die Region, die sich entlang der türkischen Grenze bis zum Irak erstreckt, hat strategische und ökonomische Bedeutung. Sie bietet Zugang zu den Nachbarländern, über die der Nachschub laufen kann. Es gibt Ölquellen und Gasvorkommen, die lukrative Geschäfte versprechen. Ganz abgesehen davon, finden die Extremisten angeblich religiöse Gründe, um gegen die Kurden vorzugehen: Wegen ihrer meist liberalen und säkularen Einstellungen verteufeln die Al-Qaida-Gruppen Kurden als Ungläubige.

Die Polizei hat nichts gegen das Radio

"Die PYD hätte gern, dass wir ihre getöteten Kämpfer als Märtyrer bezeichneten", erzählt Hossein. "Aber damit würde man werten, und das ginge gegen unsere journalistischen Prinzipien." Jetzt habe man sich auf die Formel geeinigt: "Sie haben ihr Leben verloren." Damit könne man problemlos leben, meint der Manager von Arta.FM. Anscheinend kann das auch die PYD. Der Polizeichef von Amuda versichert mehrfach: "Nein, nein, wir haben überhaupt nichts gegen das Radio. Wir lassen alle Meinungen zu." In seinem Büro hängen Poster der PYD und einige Bilder von Märtyrern. In der Weste des Parteipolizisten stecken ein Bajonett und Magazine für die Kalaschnikow.
In einem der drei Redaktionsräume von Arta.FM steht der Sendeablauf auf einer weißen Tafel an der Wand. Themenschwerpunkt des kurdischsprachigen Programms sind heute Gefängnisinsassen. Leitfrage: "Wie geht die Gesellschaft mit ihnen um?" Dazu gibt es ein Interview mit einem Anwalt und eine Straßenumfrage. Im arabischen Segment wird der Frage nachgegangen: "Wie entwickelt man eine starke Persönlichkeit?"

Das Geräusch von Bomben und Mörsern

An einem der Tische der Redaktion arbeitet Runnida Schweisch. Die studierte Psychologin erstellt Horoskope, berichtet über Gewalt in der Familie oder Depressionen nach der Geburt eines Kindes. Besonders mitgenommen ist die 26-Jährige durch ihren neuen Beitrag über mentale Probleme im Bürgerkrieg. "Es ist nicht leicht, den Geräuschen von Bomben, Mörsern und Flugzeugen zuhören zu müssen", erklärt Schweisch, der dabei Tränen über die Wangen laufen. "Bei jedem Laut denkt man daran, dass ein Menschen getötet oder schwer verwundet wurde", sagt sie schluchzend.
Vor 14 Monaten ist sie mit ihrer Familie aus Aleppo nach Amuda, in den Heimatort ihrer Großmutter geflüchtet. "Unser Viertel lag zwischen den Fronten, es wurde von Regierungstruppen und Rebellen gleichzeitig getroffen." Sie vermisse ihre Freundinnen schrecklich, gibt Schweisch zu, die in Aleppo mit geistig Behinderten gearbeitet hatte. "Die Arbeit hier beim Radio ist wunderbar, obwohl ich noch viel zu lernen habe."

"Wir haben eine wichtige Aufgabe"

Begeisterung ist auch allen anderen Radiomitarbeitern anzumerken. Mit viel Engagement arbeiten sie auch noch am Ende eines Tages an ihren Beiträgen. Seit dem Beginn des Bürgerkriegs hatten sie keine Arbeit. "Nun haben wir wieder eine Aufgabe, die spannend und wichtig ist", sagt Beriwan Ide, die das Wunschkonzert moderiert. "Viele andere sind aus Amuda in die Türkei gegangen oder anderswohin. Aber wir bleiben, und wir haben eine schöne und wichtige Aufgabe."
Die insgesamt 45 Mitarbeiter verdienen in der Regel umgerechnet 150 Euro im Monat. Für syrische Verhältnisse und mitten im Bürgerkrieg ist das kein schlechtes Einkommen. "Keiner meiner Leute hat wirklich geglaubt, dass sie ihre Gehälter wirklich pünktlich bekommen. Das ist die Ausnahme in Syrien", meint Hossein, der Manager. "Natürlich waren alle positiv überrascht, als sie ihr Geld in Händen hielten."
Finanziert wird Arta.FM mit Geldern der US-Regierung und einer schwedischen NGO, die von Syrern gegründet wurde. Die deutsche Konrad-Adenauer-Stiftung hat sich ebenfalls entschieden, das Projekt in Amuda zu fördern. "Von unseren Geldgebern werden wir nicht beeinflusst", beteuert Hossein. "Die einzige Vorgabe ist, dass wir Gewalt nicht befürworten dürfen. Aber das täten wir ohnehin nicht."

Mit "deutschen Tugenden" führt er das Radio

Der Radiomanager hat sein journalistisches Know-how beim WDR gelernt, und er sei "überaus dankbar" dafür, betont Hossein. "Mit Ordnung und Disziplin" führe er sein Radioprojekt. Für seine Mitarbeiter sei es manchmal nicht einfach, sich an die "deutschen Tugenden" zu gewöhnen, sagt er leicht amüsiert.
Hossein hat seine Frau und den zweijährigen Sohn vorübergehend in Münster zurückgelassen. Nach fast drei Monaten in Syrien werde es wieder Zeit, nach Deutschland zurückzukehren. "Aber ich könnte mir gut vorstellen, in Amuda zu leben. Es ist einfach eine wunderbare Stadt", schwärmt er. Das klingt, als wüsste er nicht, dass keine Autostunde von seiner Traumstadt entfernt schwer gekämpft wird. Bisher ist Amuda vom Krieg verschont geblieben. Aber die friedliche Idylle kann jederzeit zerbrechen.
Auf dem Märtyrer-Friedhof Ismail, der für die Toten im Kampf gegen radikale Islamisten neu eingerichtet wurde, erkennt man, wie nah der Krieg schon gekommen ist. Dort liegt ein 80-jähriger Mann, der durch eine Mörsergranate starb, als er die Moschee verließ. In sieben der insgesamt 15 Gräber liegen die Opfer einer Autobombe. Sie war am Checkpoint der PYD-Soldaten explodiert, als sie gerade Mittag aßen. Dann ist da noch der 25-jährige Alan Ferso. Er war in Gefangenschaft der Nusra-Front geraten, die ihm den Kopf abschnitt. Trotzdem: Hossein will sich ein Haus in seiner Geburtsstadt kaufen.

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Geschützt, verdrängt, geduldet

Jüdisches Leben in islamischen Ländern – eine gefährdete Tradition Der durch den Nahostkonflikt genährte Antizionismus in der arabischen Welt lässt beinahe vergessen, dass auch in muslimischen Ländern jüdische Gemeinschaften leben. Allerdings hat die Abwanderung aus wirtschaftlichen Gründen oder aufgrund von politischem Druck fast überall zu einem starken Rückgang der jüdischen Bevölkerung geführt. Im jüdischen Kasino von Tanger scheint die Zeit stehengeblieben zu sein. Gut gekleidete Damen und Herren sitzen an mit grünem Filz belegten Tischen und spielen Karten. Mehrere Kronleuchter geben dem grossen Saal eine exklusive Atmosphäre. Wem nicht nach Kartenspiel zumute ist, der sitzt an der Bar und lässt sich einen Apéritif oder auch nur ein Bier servieren. Eine Abendgesellschaft im Klub, wie sie vo...

Christoph Luxenberg - Interview/ English

The Virgins and the Grapes: the Christian Origins of the Koran A German scholar of ancient languages takes a new look at the sacred book of Islam. He maintains that it was created by Syro-Aramaic speaking Christians, in order to evangelize the Arabs. And he translates it in a new way by Sandro Magister That Aramaic was the lingua franca of a vast area of the ancient Middle East is a notion that is by now amply noted by a vast public, thanks to Mel Gibson’s film “The Passion of the Christ,” which everyone watches in that language. But that Syro-Aramaic was also the root of the Koran, and of the Koran of a primitive Christian system, is a more specialized notion, an almost clandestine one. And it’s more than a little dangerous. The author ...

Der schwarze Block von Kurdistan

US-Präsident Donald Trump hat die Kurden im Stich gelassen. Jetzt fürchten sie, dass ein Angriff aus der Türkei kurz bevorsteht. Sie trainieren in Camps für den Ernstfall – und hoffen auf die Hilfe linksradikaler Utopisten aus Europa. Von  Alfred Hackensberger S o sieht also die Hoffnung der Kurden in  Nordsyrien  aus. In einem Hof, der von einer Mauer umgeben ist, spielen ein Franzose und drei Dänen mit kleinen Hunden. „Eine der wenigen Abwechslungen“, sagt ein junger Mann, er kommt aus Paris. In Frankreich war er in anarchistischen Zirkeln aktiv. Auch die jungen Leute aus Dänemark sind Anarchisten. Ihre Mitstreiter aus der Türkei sind wiederum Marxisten. Ihre Namen geben sie nicht preis. Fotografieren lassen sie sich nur vermummt, sie befürchten rechtliche Konsequenzen in ihren Heimatländern. Die Internationale Brigade ist ein Sammelbecken von Linksidealisten, die alle auf ihre Weise von einem sozialistischen Paradies träumen. Und das liegt für sie im Norden Syri...