Nicht nur syrische Rebellen, auch Paris und London werfen
dem Assad-Regime vor, die Bevölkerung mit Chemiewaffen attackiert zu
haben. Unser Autor hat mit Augenzeugen aus der betroffenen Region
gesprochen Von Alfred Hackensberger
Frau Hammoudi bringt
ihre beiden Töchter am frühen Abend zu Bett. Danach sitzt sie mit ihrem
Mann bei Kerzenlicht zusammen. Elektrizität gibt es in Zamalka am Rande
der syrischen Hauptstadt Damaskus seit acht Monaten nicht mehr. In der
Ferne sind wie üblich Schüsse und Artilleriefeuer zu hören. Irgendwo da
draußen ist ihr Sohn, der mit den Rebellen gegen Präsident Baschar
al-Assad und sein verhasstes Regime kämpft. Kurz vor Mitternacht gehen
die Eheleute schlafen. Um 01.40 fallen die ersten Raketen. Eine von
ihnen geht in unmittelbarer Nähe ihrer Wohnung unweit der Grundschule
von Zamalka nieder, ihr Sprengkopf soll mit einem tödlichen Gas gefüllt
gewesen sein. "Wir haben sie erst zwei Tage später gefunden", erinnert
sich Mahmud, ein freiwilliger Helfer. "Kinder, Vater, Mutter, alle lagen
noch in ihren Betten." Bis heute finde man noch Tote in ihren
Wohnungen. "Ein schrecklicher Anblick, wie die Menschen mitten im Schlaf
in den Tod gerissen wurden."
Die Hammoudis gehören zu den
mehr als 1000 Menschen, die nach Angaben der Rebellen in der Nähe von
Damaskus am frühen Mittwochmorgen durch Chemiewaffen der syrischen Armee
getötet worden sein sollen. Die hohe Opferzahl erscheint realistisch,
glaubt man den Videos, die die syrische Opposition im Internet
veröffentlichte (s. Beisteller). In den beiden hauptsächlich betroffenen
Vororten Zamalka und Ein Tarma sieht man in Garagen, Moscheen oder
unfertigen Neubauten Hunderte von Leichen dicht nebeneinanderliegen,
darunter viele Kinder. Dazwischen bahnen sich Überlebende vorsichtig auf
Zehenspitzen ihren Weg. Voller Angst suchen sie nach vermissten
Angehörigen und Freunden. Es sind erdrückende Bilder, die nach dem
mutmaßlichen Chemiewaffenangriff der Regierungstruppen an die
Weltöffentlichkeit gelangten.
Wie viele
Menschen tatsächlich in der Region ums Leben kamen, ist noch unklar. Die
Toten werden möglichst schnell begraben, viele von ihnen wurden vorher
nicht identifiziert. Aufklärung könnten Inspekteure der Vereinten
Nationen leisten, die seit dem 18. August in Damaskus weilen. Sie sollen
Untersuchungen an drei Orten durchführen, an denen in den vergangenen
Monaten bereits chemische Waffen eingesetzt worden sein sollen. Rebellen
und syrische Regierung beschuldigen sich gegenseitig. Der französische
Außenminister Laurent Fabius wirft dem Regime vor, bei dem jüngsten
Angriff Chemiewaffen eingesetzt zu haben. Zuvor hatte der britische
Außenminister William Hague erklärt, er gehe davon aus, dass der
mutmaßliche Giftgasangriff auf das Konto Assads geht. Viel hängt davon
ab, ob das UN-Team auch nach Zamalka und Ein Tarma reisen darf. Selbst
Russland, neben dem Iran der stärkste Unterstützer Assads, fordert eine
Untersuchung.
Das US-Militär
geht derzeit seine Optionen für ein Eingreifen in Syrien durch.
Präsident Barack Obama habe eine entsprechende Anfrage gestellt, sagte
Verteidigungsminister Chuck Hagel. Ein Mitarbeiter des Ministeriums
erklärte, die USA verstärkten ihre Flotte im Mittelmeer
um einen vierten, mit Marschflugkörpern ausgestatteten Zerstörer. Es
gebe aber bisher keine Anweisungen, ein militärisches Vorgehen in Syrien
vorzubereiten. Laut CNN wurde die Liste von Zielen für mögliche
Luftangriffe aktualisiert. Die Planungen würden die Verwendung von
Marschflugkörpern einschließen. Auch der US-Sender CBS berichtete von
Pentagon-Planungen für einen Cruise-Missile-Angriff auf die syrischen
Regierungstruppen.
Für die Bewohner
der beschossenen Gegenden ist all dies nur ein winziger Trost. Für sie
war der 21. August ein Tag des Horrors, den sie, wie sie sagen, nie
vergessen könnten. "Wir waren zu Hause, als wir Mörsergranaten
einschlagen hörten", berichtet ein Familienvater, der seinen Namen nicht
nennen möchte. "Ich lief zu den Nachbarn, die um Hilfe riefen. Die Frau
lag am Boden, und die Kinder lagen im Sterben. Mir wurde schwindelig
und ich musste mich übergeben. Ich kroch auf allen vieren nach draußen
auf die Straße." Dort hätten Menschen schreiend auf dem Boden gelegen,
mit weit aufgerissenen Augen, gelblichen Gesichtern und offenen Mündern,
inmitten von Dutzenden von Toten. Abu Skar, ein Sanitäter, berichtet:
"Irgendein Gas, das einen verdorbenen Geruch hatte, verbreitete sich
schnell. Viele Leute wurden bewusstlos, vollkommen paralysiert, hatten
starke Kopfschmerzen und konnten nicht mehr richtig sehen. Ich habe
insgesamt 370 Personen zu verschiedenen Notfallkliniken in der Umgebung
gebracht." Ein anderer Sanitäter, der anonym bleiben möchte, erzählt, er
und seine Kollegen hätten nur die Lebenden aus den Wohnungen und
Häusern holen können. "Es waren überall viel zu viele Tote. Alle Tiere,
die wir sahen, waren tot."
Die Kämpfe am
östlichen Rand der Hauptstadt gehen unvermindert weiter. Die syrische
Armee versucht mit allen Mitteln, diese strategisch wichtige Gegend von
den Rebellen zurückzuerobern. Seit sechs Monaten stehen die Bewohner
unter Belagerung. "Es gibt kein Brot, kaum Lebensmittel, keine
Elektrizität und Wasser höchstens ein, zwei Stunden am Tag", sagt Tarek,
der eigentlich Englischlehrer ist. "Alles, selbst Medikamente für die
Zivilbevölkerung, muss eingeschmuggelt werden." Heute hilft der
30-Jährige in einer improvisierten Notfallklinik der Rebellen. "Wir
leben hier in der Hölle. Ständig werden wir mit Artillerie beschossen
und von Kampfflugzeugen bombardiert. Wir haben keinen Tag Ruhe." Für
Tarek ist klar, warum es bei dem mutmaßlichen Chemiewaffenangriff so
viele Opfer gegeben hat. "Die betroffenen Städte waren voll von
Flüchtlingen", sagt er – aus den zehn Dörfern, die die Regierungstruppen
in den vergangenen Wochen zurückerobert hatten. "Sonst gibt es hier
nicht mehr viele Menschen. Nur wer kein Geld hat oder ein
Familienmitglied, das mit den Rebellen kämpft, bleibt. Alle anderen sind
verschwunden."
Von der
UN-Kommission erwartet Tarek wenig: "Selbst wenn sie Beweise für den
Einsatz von Chemiewaffen finden, wird es das Abschlachten des syrischen
Volkes nicht stoppen." Der Bürgerkrieg sei zu einem Stellvertreterkrieg
ausländischer Staaten mutiert. "Man muss sich nur hier umschauen",
erklärt Tarek verbittert. "Die Rebellengruppen sind uneinig, jeder
besteht auf seiner politischen Agenda. Ihr Geld und ihre Direktiven
bekommen sie aus den arabischen Golfstaaten oder von Sunniten aus dem
Libanon." Auf der Regierungsseite sei es nicht anders. "Der Iran und
Russland lassen das Regime für ihre regionalen Interessen kämpfen und
werden eine mögliche militärische Intervention in Syrien nie dulden."
Auf der Strecke bliebe dabei das Volk. "Wir werden benutzt, und ein Ende
ist nicht in Sicht – egal, was das UN-Team herausfinden wird."
In anderen
syrischen Städten bereiten sich die Rebellen auf das Schlimmste vor.
"Krankenhäuser und Notambulanzen rüsten sich für einen chemischen
Angriff", sagt Abu Ali, ein Kommandant in Aleppo. Vor einigen der
Krankenhäuser in der Industriemetropole im Norden Syriens stehen große
Zelte aus dicken Plastikplanen für die Aufnahme kontaminierter
Patienten. "Für unser Personal steht moderne Schutzkleidung zur
Verfügung, und wir machen regelmäßig Übungen für den Fall eines
Chemiewaffenangriffs", sagt der Direktor eines Privatkrankenhauses, der
seinen Namen und den des Hospitals aus Angst vor möglichen
Bombenangriffen der syrischen Luftwaffe nicht nennen will. Atropin sei
in großen Mengen vorhanden; es wird als Gegenmittel zu
Nervengasvergiftungen injiziert. Kommandant Abu Ali sagt, überraschend
sei das Gas-Massaker von Damaskus nicht gekommen. "Wir kennen das
Regime, es mordet ohne Rücksicht seit mehr als zwei Jahren und trägt die
Verantwortung für mehr als 100.000 Tote." Ein Massaker mehr oder
weniger sei da nichts Neues.
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