Werde ich je wieder nach Hause zurückkehren können? Diese
Frage haben sich seit 2002 mindestens 124 Deutsche gestellt – sie wurden
im Ausland gekidnappt. Vom Hoffen, Bangen – und dem Leben danach. Von
Alfred Hackensberger und Philipp Hedemann
Es sollte die schönste
Zeit des Jahres werden: Urlaub, Abenteuerurlaub. Doch es endete in
einem Albtraum. Auf einer Fahrt durch die äthiopische Danakil-Wüste,
berühmt für einen riesigen Salzsee und einen der aktivsten Vulkane der
Welt, geschieht das Unvorstellbare: Zwei Reisegruppen werden von
muslimischen Rebellen überfallen.
Drei Touristen und zwei ungarische Forscher werden erschossen. Vier Geiseln nehmen die Rebellen mit. Unter den Verschleppten ist die Deutsche Bianca Irmer.
Für sie beginnt die schrecklichste Zeit ihres Lebens. Über Wochen
verfolgen die heute 40-Jährige die immer gleichen Fragen: "Werde ich je
wieder nach Hause zurückkehren können? Ist das hier mein Ende und werde
ich womöglich in dieser kargen Gegend einfach verscharrt?"
Bianca Irmer ist
eine von 124 Deutschen, die seit 2002 im Ausland gekidnappt wurden. 124
Schicksale, die sich in die Reihe von Tausenden von Menschen aus
verschiedensten Ländern einreihen, die weltweit von einem Moment auf den
anderen gewaltsam aus ihrem Leben gerissen wurden. Nur deswegen, weil
sie zur falschen Zeit am falschen Ort waren. Fast täglich gibt es neue
Fälle. Erst am Dienstag wurde bekannt, dass zwei spanische Journalisten in Syrien entführt wurden, vier syrische Menschenrechtaktivisten wurden Anfang der Woche verschleppt.
Hunderte sind in
diesem Moment in Kellerlöchern und winzigen Zellen eingesperrt, werden
in Höhlen und Zelten in der Wüste versteckt. Entführungen sind ein
Martyrium. Sie hinterlassen ein Trauma, das keines der Opfer vergessen
kann. Was sind das für Gefühle, die die Entführten emotional
überwältigen und wie gehen sie damit um?
"Sternschnuppen habe ich als Zeichen Gottes gedeutet"
Bianca Irmer hat
in der Zeit als Geisel "oft in die Sterne geguckt", wie sie heute
erzählt. Fast zwei Jahre sind seit den qualvollen Ereignissen vergangen.
"Sternschnuppen habe ich als Zeichen Gottes gedeutet, mit denen er mir
sagen wollte: Bald ist es vorbei." Sie habe ihre Angst runtergeschluckt
oder sie manches Mal auch "abgeweint".
Zu den
Entführern versuchte sie eine Beziehung aufzubauen. Sie wollte kein
"Nullnummer" darstellen, sondern begreiflich machen, dass sie ein Mensch
mit Gefühlen und Bedürfnissen ist. "Ich war völlig machtlos und
ausgeliefert, aber ich versuchte im Rahmen meiner Möglichkeiten,
Einfluss zu nehmen", erzählt Irmer. "Wenn ich Zigaretten wollte, habe
ich es gesagt, und sie bekommen. Wenn ich etwas anderes essen wollte,
haben sie mir etwas anderes gekocht. Das gab mir in meiner Ohnmacht das
Gefühl, zumindest ein kleines bisschen die Kontrolle über mein eigenes Leben zu haben."
Die Deutsche
arbeitete gegen die Gefühle und Kränkungen an, die typisch für
Entführungsopfer sind. "Angst und Hilflosigkeit sind vorherrschend, auch
Todesangst", erklärt Christian Lüdke, Psychotherapeut und
Traumaexperte, der seit 15 Jahren Entführungsopfer betreut. Als
besonders schlimm werde die schutzlose Preisgabe der Persönlichkeit
empfunden, die Kontrollverluste und Handlungsunfähigkeit.
"Das
grundlegende Sicherheitsgefühl ist weg und der Glauben an die Welt und
die Menschen massiv erschüttert." Man ist daran gewöhnt, liest es in der
Zeitung oder sieht es im Fernsehen: Schlimme Dinge passieren nur den
Anderen. Aber trifft das Unglück plötzlich einen selbst, ist das wie ein
Schock. "Die Folge ist eine schwere seelische Belastungsreaktion", sagt
der 53-jährige Mediziner. "Man erleidet fast immer ein Trauma."
Unterstützung von Freunden und Familie ist entscheidend
Bianca Irmer
kam nach 52 Tagen frei. Ein Lösegeld soll nicht bezahlt worden sein.
Fünf Monate nach ihrer Freilassung nahm sie wieder ihre Arbeit als
leitende Angestellte einer Jugendhilfeeinrichtung auf. Sie scheint
wieder ein normales Leben zu führen und leidet nach eigenen Angaben
nicht unter Spätfolgen.
"Mir hat es
sehr geholfen, während der Gefangenschaft Tagebuch zu schreiben", hält
sie rückblickend fest. "So konnte ich die Situation von Anfang an
verarbeiten. Vielleicht ist das ein Grund, warum ich heute nicht von
Albträumen oder Panikattacken gequält werde."
Es kann auch einfach daran liegen, dass Irmer, die aus Osnabrück stammt, von Familie und Freunden unterstützt wird. Das seien zwei entscheidende Faktoren für die Aufarbeitung eines Traumas, wie Christian Lüdke betont, der einen Lehrstuhl für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Universität Köln inne hat.
"Je zufriedener
ein Mensch mit sich und seinem Leben ist, beruflich wie privat, desto
günstiger die Prognose", sagt der Experte. Hinzukomme die Wertschätzung
von Außen, wie internationale Studien deutlich zeigten.
"Sie drohten mich zu enthaupten"
Durch das
Schreiben will auch Joanie de Rijke, eine niederländische Journalistin,
über ihr Trauma hinweggekommen sein. In Afghanistan wollte sie den
Anführer einer Gruppe von Taliban interviewen, die kurz zuvor zehn
französische Soldaten getötet hatte. Anstatt ein Interview zu geben,
kidnappten sie de Rijke. Auch sie fühlte Verzweiflung und Todesangst.
"Sie drohten mich zu enthaupten", berichtet die Reporterin.
"Gleichzeitig war ich unglaublich verärgert. Aus Frustration und
Ohnmacht, weil die Entführer mit ihren Waffen die absolute Macht
hatten."
In ihrer
Gefangenschaft wurde die damals 43-Jährige vergewaltigt. "Der Kommandant
lag nachts neben mir", erinnert sich de Rijke. "Wir schliefen draußen,
hoch oben in den Bergen". Auf einer Seite sei ein riesiger Felsen
gewesen und zu ihren Füßen eine Schlucht. "Er packte mich am Hals,
drückte zu und ich konnte nicht mehr atmen."
Vergewaltigung
im Entführungsfall bedeutet eine Verschärfung des Traumas. Nur der Tod
würde diese Demütigung noch übertreffen, beschreibt es der
Psychotherapeut Lüdke. "Menschen, entführt und vergewaltigt, werden aufs
brutalste erniedrigt und in ihrer Persönlichkeit zerstört."
"Ich hab es mir vom Leib geschrieben"
De Rijke kam
nach einer Woche bereits wieder frei. Die Taliban hatten ein Lösegeld
von umgerechnet 100.000 Euro akzeptiert, nachdem sie über eine Million
gefordert hatten. "Mir geht es sehr gut und ich habe keinerlei Trauma",
versichert die 47-Jährige heute, die über ihre Zeit in den Händen der
Taliban ein Buch veröffentlicht hat. Mittlerweile ist sie wieder als
Reporterin in Krisengebieten unterwegs.
"Beim Schreiben
fühlte ich mich zuerst schlecht, weil ich die ganze Sache noch mal
durchmachte", sagt sie. Aber Monate später habe sie realisiert: "Ich hab
es mir vom Leib geschrieben." Von ihren Entführern, die mittlerweile in
Afghanistan getötet wurden, behauptet sie, respektvoll behandelt worden
zu sein.
Sie wolle die
Taliban nicht als Monster darstellen. Sie sei auch dem Kommandanten
nicht böse, der sie vergewaltigt und sie zum gemeinsamen Sex mit seiner
Frau eingeladen hatte. "Am Ende hat er mich doch leben lassen."
Nach Freilassung drohen Flashbacks
Einige
niederländische Zeitungen unterstellten de Rijke unter dem
Stockholm-Syndrom zu leiden. Man versteht darunter eine positive
emotionale Beziehung, die bis zur Solidarität mit den Tätern gehen kann.
Ein Phänomen, das zum ersten Mal im August 1973 bei einem Banküberfall
in Stockholm beobachtet wurde. 131 Stunden waren die Geiseln in der
Macht der Bankräuber.
De Rijke weist ein Stockholm-Syndrom
weit von sich. "Ich war nur sieben Tage entführt und in dieser kurzen
Zeit kann man keine emotionale Beziehung herstellen, durch die man eine
Gehirnwäsche bekommen könnte." Für den Trauma-Spezialisten Lüdke scheint
es eine typische Reaktion zu sein: "Es ist eine paradoxe Dankbarkeit
durch erzwungene Nähe und erzwungene Intimität."
Das Martyrium
der Entführungsopfer, wenn sie nach Tagen, Monaten oder oft auch erst
nach Jahren freikommen, steht im Mittelpunkt des öffentlichen
Interesses. Dabei leiden die nahen Angehörigen, Eltern, Ehefrau oder
Ehemann sowie die Kinder nicht minder unter der Entführung.
"Sie können die
gleichen Gefühle erleben", sagt Lüdke. "Man nennt es die sekundäre
Traumatisierung." Dazu gehörten sogenannte Flashbacks, negative
Erinnerungsbilder, starke Schlafstörungen und Schmerzsymptome, die den
Alltag beeinträchtigen.
Hoffnung ist das Einzige, was den Angehörigen bleibt
Die Eltern von
Nicolas Hénin müssen erleben, was das bedeutet. Ihr Sohn wurde am 7.
November 38 Jahre alt. Zu feiern gab es allerdings nichts. Denn der
französische Journalist wurde am 22. Juni in Syrien von islamistischen
Rebellen entführt. Hénin ist einer von insgesamt 60 Pressevertretern,
die dort gekidnappt wurden oder verschwunden sind.
Syrien ist derzeit das gefährlichste Land für Journalisten.
Wo der Franzose gefangen gehalten wird, weiß man nicht. "Das letzte
Lebenszeichen haben wir Mitte August erhalten", sagt Vater Pierre-Yves
Hénin. "Das macht uns Hoffnung". Hoffnung ist das Einzige, was den
Angehörigen bleibt. Sonst würden sie von der Ungewissheit und Ohnmacht
innerliche zerrissen.
Denn viel kann
der Vater von Nicolas nicht tun. Im Unterschied zu gängigen
Entführungsfällen stellen radikal-islamistische Gruppen in Syrien keine
Forderungen. Dies ist auch im Falle von Nicolas so. "Natürlich fühlen
wir uns hilflos", gibt Pierre-Yves Hénin zu. "Wir hoffen, eine gewisse
Öffentlichkeit für unseren Sohn mobilisieren zu können."
Die Eltern von James
Foley, einem US-Journalisten, der vor einem Jahr in Syrien spurlos
verschwunden ist, versuchen das gleiche. Sie treten in TV-Shows auf,
sprechen mit Diplomaten und machen im Internet auf den Fall ihres Sohnes
aufmerksam. Es vergeht kein Tag, an dem sie nicht mit dem Schicksal von
James beschäftigt sind.
Auch ihr Sohn
hatte kürzlich Geburtstag. Es war sein 40ster. Es sind Tage wie diese,
die innerlich Schmerzen bereiten und die Sorge noch einmal wachsen
lassen. Nur die Hoffnung trägt sie weiter, die Erwartung, ihren Sohn
bald wieder in die Arme nehmen zu können. Eine Hoffnung, die sie sich
wohl mit allen anderen Angehörigen von Entführungsopfern teilen. Wann
geht dieser Albtraum nur zu Ende?
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