Um die Bildung einer tunesischen Regierung wird kontrovers
verhandelt, während Polizei und Justiz weiter einen Freifahrtschein zu
haben scheinen. Manche Oppositionelle hoffen schon auf das Militär. Von
Alfred Hackensberger, Tunis
Am Freitagabend
soll es in die nächste Verhandlungsrunde gehen. "Kein Mensch weiß, wie
lange es wieder dauert", sagt die Anwältin und Menschenrechtsaktivistin
Rhadia Nasroui. Die Politiker müssten sich beeilen, denn die Menschen
werden ungeduldig. Für Samstag werden große Demonstrationen in Tunis
erwartet. "Mein Mann hat Filali am Freitagmorgen angerufen", erzählt
Nasroui, "um ihn über die Nominierung zu informieren, aber der fühlte
sich plötzlich zu alt für die Aufgabe. Zugesagt habe er aber im
Vorfeld".
Todesdrohung von islamischen Gelehrten
Nasrouis Ehemann
ist Hamma Hammami, der Sprecher der Volksfront (FP), einer
linksgerichteten Parteienallianz, die in der verfassungsgebenden
Versammlung acht Sitze hat. Zwei Mitglieder der FP, Schokri Belaid und
Mohamed Brahmi, waren dieses Jahr – im Februar und Juli - auf offener
Straße in Tunis mit der gleichen Tatwaffe getötet worden.
"Auch mein Mann hatte Todesdrohung von sogenannten islamischen
Gelehrten bekommen, wie etwa von diesem Adel al-Almi", sagt Nasroui.
"Aber von den Behörden wurde nichts gegen diesen Kerl unternommen,
obwohl es eine Straftat ist". Das sei typisch für eine generelle
Apathie, Entscheidungen zu treffen und Reformen durchzuführen.
Am Manouba
Gerichtshof klagte die Anwältin heute gegen eine wohlhabende Familie,
deren Sohn die Tochter des Nachbarn vergewaltigte und obendrein ihren
Vater brutal zusammenschlug. "Meine Klienten, die arm sind, vertrete ich
kostenlos". Die reiche Gegenpartei habe bereits gestern eine Party
veranstaltet, auf der die heutige Freilassung des Angeklagten gefeiert
worden sei. "Sehen Sie, in Tunesien hat sich nach der Revolution nicht
viel verändert. Es geht immer noch nicht mit rechten Dingen zu".
Misshandlungen in Polizeigewahrsam
Auf der Fahrt
zum nächsten Gerichtstermin spricht Nasroui über den Alltag von
Misshandlungen und Folterungen an Gefangenen in Polizeigewahrsam. Sie
nennt das Beispiel von Walid Denguir, der auf dem Polizeirevier
gestorben ist. "Ich habe eine Pressekonferenz abgehalten, Fotos des
Leichnams gezeigt, auf denen Foltermerkmale zu erkennen sind und dazu
Expertisen von Fachleuten aus Europa vorgelegt", erzählt die 60-jährigen
Menschenrechtsaktivistin. Daraufhin habe sie die Polizeigewerkschaft
angegriffen, ihre Anschuldigungen entsprächen nicht der Wahrheit und
Misshandlungen würde es keine gegeben.
"Die Polizei und
Justiz haben nach wie vor einen Freifahrtschein. Es alles ist noch so
wie unter dem ehemaligen Diktator Ben Ali". Was Menschenrechte und
Sicherheit betreffe, habe sich die Lage sogar deutlich verschlechtert.
Journalisten und Anwälte würden ständig bedroht. "Sehen Sie, der junge
Mann auf dem Beifahrersitz neben mir ist nicht mein Assistent, er ist
mein Leibwächter. Mein Mann hat sogar sieben oder acht Bewacher".
Säkulare Zivilgesellschaft gibt nicht klein bei
Die beiden
brutale Mordanschläge an den beiden FP-Politikern lösten Demonstrationen
von Hunderttausenden von Menschen aus. Die Regierungspartei Ennhada
galt als Schuldige der Attentate. In ganz Tunesien stürmte man mehr als
20 Büros der Islamisten und steckte sie zum Teil in Brand. Diese
Proteste brachten die politische Krise zum Überlaufen. Sie zeigten, wie
stark die säkulare Zivilgesellschaft Tunesiens und ihre Bereitschaft
ist, der islamistischen Partei nicht klein beizugeben. Zumal ihre Nähe
zu Ansar al-Sharia und anderen radikalen Salfisten öffentlich wurde.
Ein Video, das
kursierte, zeigt Raschid Ghannouchi, den Ennhada-Führer, im Kreis von
Extremisten. Er nennt sie "unsere Söhne" und fordert sie auf, mit allen
erdenklichen Mitteln, von Koranschulen bis sozialen Stiftungen, den
"wahren Islam" zu verbreiten.
"Es gibt bei
Ennhada in der Tat einen radikalen Flügel", sagt Alaya Allani,
Islamspezialist an der Manouba Universität von Tunis.
"Regierungsmitglieder von Ennahda traten beim Kongress von Ansar
al-Sharia auf, die mittlerweile als Terrororganisation eingestuft wurde.
Von Seiten Ennhadas selbst existiert jedoch bis heute keine Erklärung
zu Ansar al-Sharia als Terrorgruppe. Und das, obwohl Verbindungen zu den
beiden Morden an den beiden FP-Mitgliedern nachgewiesen sind".
Extremisten näher als der Demokratie
Viele Tunesier
sind enttäuscht, die Ennhada gewählt und ihren Versprechungen geglaubt
hatten, die Islamisten wollten tatsächlich Demokratie. In Wahrheit
erschienen sie den Extremisten näher als der Demokratie. Für die
Säkularen bestätigte sich, was sie eh von Ennhada geglaubt hatten: Sie
sind Wölfe in Schafpelzen.
Ein weiterer
Faktor, der der Opposition mehr Zulauf als zuvor einbrachte, ist die
anhaltende Krise der Wirtschaft. Im dritten Jahr nach der Revolution ist
sie so schlecht wie nie zuvor: steigende Inflation, steigende
Arbeitslosenzahlen, steigende Armut unter der Bevölkerung. In einer
Meinungsumfrage aus diesem Dezember sagten 83 Prozent, dass der
Lebensstandard und die Wirtschaft sich im Laufe dieses Jahres wesentlich
verschlechtert hätten. 29 Prozent versicherten, sie hätten zunehmend
Probleme ihre Familie zu ernähren und die notwendigsten Dinge zum
Überleben zu kaufen.
"Die Regierung
beging große Fehler", urteilt Habib Lahzami von der mächtigsten
Gewerkschaft, der UGTT. "Sie hätte einen wesentlich härteren Kurs in
Sachen Ökonomie, Korruption und Sicherheit fahren müssen. Wir sind zwar
in einer Übergangsphase, aber mit mehr Entschlossenheit würden wir heute
wesentlich besser dastehen".
Zwei Monate des Übergangs
Nach langen
widerspenstigen Verhandlungen willigte Ennhada ein, die
Regierungsaufgabe an ein Kabinett der Technokraten abzugeben. Es sollte
als Übergangsregierung fungieren, bis die neue Verfassung fertig
gestellt ist und Neuwahlen ausgerufen sind. Was eine relativ einfache
Aufgabe schien, zog sich fast zwei Monate hin.
Am vierten
Dezember stellte nun die UGTT als Vermittler zwischen Regierung und
Opposition ein Ultimatum. Sollte man sich bis zum 14. Dezember nicht auf
einen neuen Premierminister einigen, würde der nationale Dialog
abgebrochen. Und nun das: der gewählte Kandidat will das Amt nicht
annehmen!
"Oh, ja!
Nationaler Dialog klingt gut", meint Lazher Akremi, der Sprecher von
Nidaa Tounes, der stärksten Oppositionspartei. "Aber einen wirklichen
Dialog gab es mit Ennhada nicht. Sie klebten an der Macht und wollten
sie nicht aufgeben", erklärt Akremi in einem schicken Cafe gegenüber
seiner Parteizentrale in Berge Du Lac, einem noblen Vorort von Tunis.
Nur die Treue zur Partei soll zählen
Letztendlich
sei es nur ein Manövrieren gewesen, um Zeit zu gewinnen. "Ennhada hat
nebenbei insgesamt 2402 neue Posten in hohen Staatsämtern besetzt, wobei
Qualifikation keine Rolle spielte, nur die Treue zur Partei". Das könne
man nicht anders als Infiltration bezeichnen, fügt Akremi an, der neben
seiner Funktion als Parteisprecher, eine Anwaltskanzlei unterhält. Er
sei überrascht gewesen, dass man sich kurz vor Ende des Ultimatums doch
noch auf einen Kandidaten hatte einigen können.
Für Akremi ist
Ennahda gleichbedeutend mit islamischer Staat und das sei eine
Horrorvorstellung, wie er kopfschüttelnd zugibt. "Was soll man von
solchen Leuten schon erwarten, die gesuchte Terroristen der Hamas und
anderer palästinensischer Gruppen nach Tunesien einladen und mit Ansar
al-Sharia gemeinsame Sache machen?"
Das Militär könnte Sicherheit garantieren
Für den
Sprecher von Nidaa Tounes wäre es eine logische Konsequenz gewesen,
sollte es keinen Konsens geben: das Eingreifen des Militärs. "Man kann
doch nicht zusehen, wie die Nation ökonomisch, politisch und sozial vor
die Hunde geht", meint Akremi. "Das Militär könnte Sicherheit
garantieren, das neue Wahlrecht vorantreiben und damit den Weg für
Wahlen freimachen".
Im
Hauptquartier von Ennhada stellt sich alles völlig anders dar. Das
Parteibürohaus liegt keine zehn Autominuten von der Avenue Bourghiba
entfernt, auf der die Massenproteste gegen Diktator Ben Ali stattfanden.
"Politik hat nicht immer etwas mit Freude zu tun", sagt Noureddine
Arboui vom Ennhada-Politbüro mit dem philosophischem Unterton eines
Gelehrten. "Wir sind neu im Geschäft, machen durchaus Fehler, aber wir
sind zu Kompromissen bereit". Nur die Opposition, besonders die Linken
hätten ein Scheitern des Nationalen Dialogs in Kauf genommen.
"Ihnen ist es
völlig egal, ob Tunesien in den Abgrund stürzt", behauptet Arboui, der
unter dem Regime Ben Alis 17 Jahre im Gefängnis saß, die meiste Zeit
davon in Einzelhaft. "Die Opposition will immer nur das Gegenteil von
uns, fast schon wie trotzige, kleine Kinder". Dass jetzt der vereinbarte
Kandidat das Amt des Premierministers nicht annehmen wollte, sei
bedauerlich, "aber so ist Demokratie eben".
Ennhada ist keine religiöse Partei
Auf das
verlorene Vertrauen in Ennhada angesprochen, das durch das Video von
Ghannouchi und seinen Extremistenfreunden entstanden sei, will Arboui
nichts wissen. Ghannouchi habe Pionierarbeit geleistet, in dem er
versucht habe, diese Leute in die Gesellschaft zu integrieren. So kann
man es auch sehen, wobei allerdings eine große Portion Zynismus von
Nöten ist. "Ennhada ist keine religiöse Partei, wie manche
fälschlicherweise behaupten", fügt der ehemalige politische Gefangene
an. "Wir treffen Entscheidungen mit hochrangigen Experten, nicht mit
Religion".
Angesichts der
Wirtschaftskrise hätten diese "hochrangigen Experten" aber versagt.
"Nein, nein", entgegnet Arboui. "Wer kann bei 37.000 Streiks innerhalb
von zwei Jahren schon eine geradlinige Wirtschaftspolitik betreiben?"
Auf dem Weg aus
seinem Büro zum Lift wird klar, wer für Ennhada ein rotes Tuch ist.
"Die FP sind die schlimmsten. Wenn Sie eine Studie über die letzten
Marxisten machen wollen, kommen sie nach Tunesien. Hier verehrt man noch
Stalin, der mehr als 20 Millionen Menschen auf dem Gewissen hat".
Arboui öffnet die Aufzugtür und sagt lächelnd zum Abschluss: "Ist das
nicht unglaublich?"
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