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Wann endet das Chaos in Tunesien?

Um die Bildung einer tunesischen Regierung wird kontrovers verhandelt, während Polizei und Justiz weiter einen Freifahrtschein zu haben scheinen. Manche Oppositionelle hoffen schon auf das Militär. Von Alfred Hackensberger, Tunis

Die Protestaktionen in Tunis nehmen zu: Hier haben sich Mitglieder der Gewerkschaft UGGT versammelt
Foto: dpa Die Protestaktionen in Tunis nehmen zu: Hier haben sich Mitglieder der Gewerkschaft UGGT versammelt

 
Am Donnerstagabend war es endlich soweit: Nach beinahe zwei Monate langen Verhandlungen zwischen Regierung und Opposition hatte man sich in Tunesien auf einen neuen Premierminister geeinigt. Aber der Auserkorene, Mustafa Filali, sagte postwendend am Freitagmorgen ab. "Ich bin zu alt dafür", erklärte der 92-Jährige, der noch unter Habib Bourghiba in den 1950ern Minister gewesen war.
Am Freitagabend soll es in die nächste Verhandlungsrunde gehen. "Kein Mensch weiß, wie lange es wieder dauert", sagt die Anwältin und Menschenrechtsaktivistin Rhadia Nasroui. Die Politiker müssten sich beeilen, denn die Menschen werden ungeduldig. Für Samstag werden große Demonstrationen in Tunis erwartet. "Mein Mann hat Filali am Freitagmorgen angerufen", erzählt Nasroui, "um ihn über die Nominierung zu informieren, aber der fühlte sich plötzlich zu alt für die Aufgabe. Zugesagt habe er aber im Vorfeld".

Todesdrohung von islamischen Gelehrten

Nasrouis Ehemann ist Hamma Hammami, der Sprecher der Volksfront (FP), einer linksgerichteten Parteienallianz, die in der verfassungsgebenden Versammlung acht Sitze hat. Zwei Mitglieder der FP, Schokri Belaid und Mohamed Brahmi, waren dieses Jahr – im Februar und Juli - auf offener Straße in Tunis mit der gleichen Tatwaffe getötet worden. "Auch mein Mann hatte Todesdrohung von sogenannten islamischen Gelehrten bekommen, wie etwa von diesem Adel al-Almi", sagt Nasroui. "Aber von den Behörden wurde nichts gegen diesen Kerl unternommen, obwohl es eine Straftat ist". Das sei typisch für eine generelle Apathie, Entscheidungen zu treffen und Reformen durchzuführen.


„Kein Mensch weiß, wie lange es wieder dauert“, sagt die Anwältin Rhadia Nasroui zur Regierungsbildung
Foto: victor breiner "Kein Mensch weiß, wie lange es wieder dauert", sagt die Anwältin Rhadia Nasroui zur Regierungsbildung
 

„Es gibt bei Ennhada in der Tat einen radikalen Flügel“, ist sich der Islamexperte Professor Alaya Allani sicher
Foto: victor breiner 
"Es gibt bei Ennhada in der Tat einen radikalen Flügel", ist sich der Islamexperte Professor Alaya Allani sicher
Am Manouba Gerichtshof klagte die Anwältin heute gegen eine wohlhabende Familie, deren Sohn die Tochter des Nachbarn vergewaltigte und obendrein ihren Vater brutal zusammenschlug. "Meine Klienten, die arm sind, vertrete ich kostenlos". Die reiche Gegenpartei habe bereits gestern eine Party veranstaltet, auf der die heutige Freilassung des Angeklagten gefeiert worden sei. "Sehen Sie, in Tunesien hat sich nach der Revolution nicht viel verändert. Es geht immer noch nicht mit rechten Dingen zu".

Misshandlungen in Polizeigewahrsam

Auf der Fahrt zum nächsten Gerichtstermin spricht Nasroui über den Alltag von Misshandlungen und Folterungen an Gefangenen in Polizeigewahrsam. Sie nennt das Beispiel von Walid Denguir, der auf dem Polizeirevier gestorben ist. "Ich habe eine Pressekonferenz abgehalten, Fotos des Leichnams gezeigt, auf denen Foltermerkmale zu erkennen sind und dazu Expertisen von Fachleuten aus Europa vorgelegt", erzählt die 60-jährigen Menschenrechtsaktivistin. Daraufhin habe sie die Polizeigewerkschaft angegriffen, ihre Anschuldigungen entsprächen nicht der Wahrheit und Misshandlungen würde es keine gegeben.
"Die Polizei und Justiz haben nach wie vor einen Freifahrtschein. Es alles ist noch so wie unter dem ehemaligen Diktator Ben Ali". Was Menschenrechte und Sicherheit betreffe, habe sich die Lage sogar deutlich verschlechtert. Journalisten und Anwälte würden ständig bedroht. "Sehen Sie, der junge Mann auf dem Beifahrersitz neben mir ist nicht mein Assistent, er ist mein Leibwächter. Mein Mann hat sogar sieben oder acht Bewacher".

Säkulare Zivilgesellschaft gibt nicht klein bei

Die beiden brutale Mordanschläge an den beiden FP-Politikern lösten Demonstrationen von Hunderttausenden von Menschen aus. Die Regierungspartei Ennhada galt als Schuldige der Attentate. In ganz Tunesien stürmte man mehr als 20 Büros der Islamisten und steckte sie zum Teil in Brand. Diese Proteste brachten die politische Krise zum Überlaufen. Sie zeigten, wie stark die säkulare Zivilgesellschaft Tunesiens und ihre Bereitschaft ist, der islamistischen Partei nicht klein beizugeben. Zumal ihre Nähe zu Ansar al-Sharia und anderen radikalen Salfisten öffentlich wurde.
Ein Video, das kursierte, zeigt Raschid Ghannouchi, den Ennhada-Führer, im Kreis von Extremisten. Er nennt sie "unsere Söhne" und fordert sie auf, mit allen erdenklichen Mitteln, von Koranschulen bis sozialen Stiftungen, den "wahren Islam" zu verbreiten.
"Es gibt bei Ennhada in der Tat einen radikalen Flügel", sagt Alaya Allani, Islamspezialist an der Manouba Universität von Tunis. "Regierungsmitglieder von Ennahda traten beim Kongress von Ansar al-Sharia auf, die mittlerweile als Terrororganisation eingestuft wurde. Von Seiten Ennhadas selbst existiert jedoch bis heute keine Erklärung zu Ansar al-Sharia als Terrorgruppe. Und das, obwohl Verbindungen zu den beiden Morden an den beiden FP-Mitgliedern nachgewiesen sind".

Extremisten näher als der Demokratie

Viele Tunesier sind enttäuscht, die Ennhada gewählt und ihren Versprechungen geglaubt hatten, die Islamisten wollten tatsächlich Demokratie. In Wahrheit erschienen sie den Extremisten näher als der Demokratie. Für die Säkularen bestätigte sich, was sie eh von Ennhada geglaubt hatten: Sie sind Wölfe in Schafpelzen.
Ein weiterer Faktor, der der Opposition mehr Zulauf als zuvor einbrachte, ist die anhaltende Krise der Wirtschaft. Im dritten Jahr nach der Revolution ist sie so schlecht wie nie zuvor: steigende Inflation, steigende Arbeitslosenzahlen, steigende Armut unter der Bevölkerung. In einer Meinungsumfrage aus diesem Dezember sagten 83 Prozent, dass der Lebensstandard und die Wirtschaft sich im Laufe dieses Jahres wesentlich verschlechtert hätten. 29 Prozent versicherten, sie hätten zunehmend Probleme ihre Familie zu ernähren und die notwendigsten Dinge zum Überleben zu kaufen.
"Die Regierung beging große Fehler", urteilt Habib Lahzami von der mächtigsten Gewerkschaft, der UGTT. "Sie hätte einen wesentlich härteren Kurs in Sachen Ökonomie, Korruption und Sicherheit fahren müssen. Wir sind zwar in einer Übergangsphase, aber mit mehr Entschlossenheit würden wir heute wesentlich besser dastehen".

Zwei Monate des Übergangs

Nach langen widerspenstigen Verhandlungen willigte Ennhada ein, die Regierungsaufgabe an ein Kabinett der Technokraten abzugeben. Es sollte als Übergangsregierung fungieren, bis die neue Verfassung fertig gestellt ist und Neuwahlen ausgerufen sind. Was eine relativ einfache Aufgabe schien, zog sich fast zwei Monate hin.
Am vierten Dezember stellte nun die UGTT als Vermittler zwischen Regierung und Opposition ein Ultimatum. Sollte man sich bis zum 14. Dezember nicht auf einen neuen Premierminister einigen, würde der nationale Dialog abgebrochen. Und nun das: der gewählte Kandidat will das Amt nicht annehmen!
"Oh, ja! Nationaler Dialog klingt gut", meint Lazher Akremi, der Sprecher von Nidaa Tounes, der stärksten Oppositionspartei. "Aber einen wirklichen Dialog gab es mit Ennhada nicht. Sie klebten an der Macht und wollten sie nicht aufgeben", erklärt Akremi in einem schicken Cafe gegenüber seiner Parteizentrale in Berge Du Lac, einem noblen Vorort von Tunis.

Nur die Treue zur Partei soll zählen

Letztendlich sei es nur ein Manövrieren gewesen, um Zeit zu gewinnen. "Ennhada hat nebenbei insgesamt 2402 neue Posten in hohen Staatsämtern besetzt, wobei Qualifikation keine Rolle spielte, nur die Treue zur Partei". Das könne man nicht anders als Infiltration bezeichnen, fügt Akremi an, der neben seiner Funktion als Parteisprecher, eine Anwaltskanzlei unterhält. Er sei überrascht gewesen, dass man sich kurz vor Ende des Ultimatums doch noch auf einen Kandidaten hatte einigen können.
Für Akremi ist Ennahda gleichbedeutend mit islamischer Staat und das sei eine Horrorvorstellung, wie er kopfschüttelnd zugibt. "Was soll man von solchen Leuten schon erwarten, die gesuchte Terroristen der Hamas und anderer palästinensischer Gruppen nach Tunesien einladen und mit Ansar al-Sharia gemeinsame Sache machen?"

Das Militär könnte Sicherheit garantieren

Für den Sprecher von Nidaa Tounes wäre es eine logische Konsequenz gewesen, sollte es keinen Konsens geben: das Eingreifen des Militärs. "Man kann doch nicht zusehen, wie die Nation ökonomisch, politisch und sozial vor die Hunde geht", meint Akremi. "Das Militär könnte Sicherheit garantieren, das neue Wahlrecht vorantreiben und damit den Weg für Wahlen freimachen".
Im Hauptquartier von Ennhada stellt sich alles völlig anders dar. Das Parteibürohaus liegt keine zehn Autominuten von der Avenue Bourghiba entfernt, auf der die Massenproteste gegen Diktator Ben Ali stattfanden. "Politik hat nicht immer etwas mit Freude zu tun", sagt Noureddine Arboui vom Ennhada-Politbüro mit dem philosophischem Unterton eines Gelehrten. "Wir sind neu im Geschäft, machen durchaus Fehler, aber wir sind zu Kompromissen bereit". Nur die Opposition, besonders die Linken hätten ein Scheitern des Nationalen Dialogs in Kauf genommen.
"Ihnen ist es völlig egal, ob Tunesien in den Abgrund stürzt", behauptet Arboui, der unter dem Regime Ben Alis 17 Jahre im Gefängnis saß, die meiste Zeit davon in Einzelhaft. "Die Opposition will immer nur das Gegenteil von uns, fast schon wie trotzige, kleine Kinder". Dass jetzt der vereinbarte Kandidat das Amt des Premierministers nicht annehmen wollte, sei bedauerlich, "aber so ist Demokratie eben".

Ennhada ist keine religiöse Partei

Auf das verlorene Vertrauen in Ennhada angesprochen, das durch das Video von Ghannouchi und seinen Extremistenfreunden entstanden sei, will Arboui nichts wissen. Ghannouchi habe Pionierarbeit geleistet, in dem er versucht habe, diese Leute in die Gesellschaft zu integrieren. So kann man es auch sehen, wobei allerdings eine große Portion Zynismus von Nöten ist. "Ennhada ist keine religiöse Partei, wie manche fälschlicherweise behaupten", fügt der ehemalige politische Gefangene an. "Wir treffen Entscheidungen mit hochrangigen Experten, nicht mit Religion".
Angesichts der Wirtschaftskrise hätten diese "hochrangigen Experten" aber versagt. "Nein, nein", entgegnet Arboui. "Wer kann bei 37.000 Streiks innerhalb von zwei Jahren schon eine geradlinige Wirtschaftspolitik betreiben?"
Auf dem Weg aus seinem Büro zum Lift wird klar, wer für Ennhada ein rotes Tuch ist. "Die FP sind die schlimmsten. Wenn Sie eine Studie über die letzten Marxisten machen wollen, kommen sie nach Tunesien. Hier verehrt man noch Stalin, der mehr als 20 Millionen Menschen auf dem Gewissen hat". Arboui öffnet die Aufzugtür und sagt lächelnd zum Abschluss: "Ist das nicht unglaublich?"

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