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Syriens Revolution liegt in der Hand der Islamisten

Die neue Rebellengruppe Islamische Front vertreibt den Befehlshaber der Freien Syrischen Armee. Damit steht fest: Die Revolution gibt es nicht mehr – Islamisten beherrschen nun die eroberten Gebiete. Von Alfred Hackensberger

Salim Idriss, bisher Generalstabschef der Freien Syrischen Armee (FSA), ist offenbar nach Katar geflohen
Foto: dpa Salim Idriss, bisher Generalstabschef der Freien Syrischen Armee (FSA)

Es ist eine höchst verworrene Lage - aber unter dem Strich steht ein Coup gegen den Chef der Freien Syrischen Armee und seine Flucht in die Türkei. Ein Coup, der erneut bestätigt: Das Kräfteverhältnis innerhalb der syrischen Opposition, die gegen Baschar al-Assad kämpft, hat sich verschoben.
Denn die stärkste Gruppe in dieser Opposition ist längst nicht mehr die Freie Syrische Armee, sondern es sind die radikalen Islamisten. Allen voran die neu gegründete Islamische Front – mit mindestens 60.000 Mann unter Waffen.
Eigentlich sollten sie die Lagerhäuser des Obersten Militärrats (SMC) der syrischen Rebellen in Atmeh beschützen. "Verteidigung gegen die Al-Qaida-Gruppen von Dschabahat al-Nursa (JAN) und den Islamischen Staat im Irak und der Levante (ISIL)", so lautete der Auftrag, den General Salim Idriss, Oberbefehlshaber der Freien Syrischen Armee (FSA), den Kämpfern der Islamischen Front erteilte. Sorge war angebracht, da das Dorf Atmeh, unweit der Grenze zur Türkei im Nordwesten Syriens, vom ISIL kontrolliert wird. Immer wieder gab es dort Plünderungsversuche.

Zehn Lagerhäuser geleert

Die Bewachung durch die Islamische Front hatte jedoch wenig Erfolg. "Insgesamt zehn FSA-Lagerhäuser sind jetzt leer", behauptete ein Mitglied des Militärrats. Es fehlen angeblich 2000 Ak-47, ein Sortiment von 1000 M79-Osa-Raketenwerfern, Panzerabwehrgranaten, schwere Maschinengewehre vom Kaliber 14,5mm und mehr als 200 Tonnen Munition. Als Zugabe seien noch über 100 Militärfahrzeuge verschwunden, die aus dem Paket der "nicht tödlichen" Hilfe der USA stammten.
Das SMC-Mitglied will den Kommandanten Abu al-Nur der Gruppe Ahrar al-Scham als Leiter der Diebstahlsaktion erkannt haben. Ahrar al-Scham ist heute integraler Bestandteil der Islamischen Front. Sie soll nach dem Überfall auf die Lagerhäuser auch den nur fünf Kilometer entfernten Grenzübergang Bab al-Hawa übernommen haben. Die Türkei schloss daraufhin den Übergang, der die größte und wichtigste Verbindung mit dem Norden Syriens ist.

Idriss offenbar in Katar

Das Hauptquartier des SMC blieb ebenso wenig verschont. Es wurde zusammen mit dem Büro von General Idriss gestürmt. Das Syrische Observatorium für Menschenrechte (SOHR) in London meldete: "Feuergefechte dauerten die ganze Nacht hindurch. Kämpfer der Islamischen Front nahmen mehrere Positionen des Generalstabs der FSA am Grenzübergang Bab al-Hawa ein und erbeuteten das Waffenlager der FSA."
General Idriss soll nach dem Verlust seines Stützpunkts umgehend geflohen sein, zuerst in die Türkei, am Sonntag dann nach Katar. Das Golfemirat investierte seit Beginn des Bürgerkriegs vor über zwei Jahren viele Millionen in die syrischen Rebellen.

FSA dementiert die Flucht

Als "lächerlich" bezeichnete der FSA-Sprecher Luai al-Mokdad alle Medienberichte über die Flucht des SMC-Chefs. "General Idriss hält sich an der syrisch-türkischen Grenze auf und ging in den letzten drei Tagen seinen militärischen Pflichten nach." Es gebe keine Probleme mit der Islamischen Front. Idriss habe sich in der Türkei sogar mit ihren Führern getroffen.
In Istanbul versicherte Khaled Saleh, der Sprecher der Syrischen Nationalen Koalition (SNC), es habe einen Angriff auf die Lagerhäuser in Atmeh gegeben – allerdings durch ISIL – und die Islamische Front sei um Hilfe gebeten worden. "Zum Glück haben sie den Angriff der al-Qaida-nahen Gruppe zurückschlagen können."
Dass die Freie Syrische Armee die Flucht ihres Generalstabschefs dementierte, werten Beobachter als den Versuch einer Schadensbegrenzung. Ob er geflüchtet sei oder nicht, sei letztlich gleichgültig - unter dem Strich stehe, dass nun endgültig Islamisten in Syrien dort an der Macht seien, wo es nicht das Regime von Assad ist.
US-Offizielle in Washington bezeichneten die Vorgänge als einen "internen Coup", der jedoch nicht das Ende des SMC und seines Oberbefehlshabers bedeuten würde. Die US-Botschaft in Ankara ließ am Mittwoch bekannt geben: "Als Resultat der Situation haben die Vereinigten Staaten alle weiteren Lieferungen von nicht tödlicher Hilfe in den Norden Syriens suspendiert." Gleichzeitig wurde betont, dass dies nur temporär sei. Humanitäre Hilfe, die NGOs erteilen, sei nicht betroffen.

Details zur Islamischen Front

Auswirkungen könnte der "interne Coup" auf die Friedensgespräche haben, die für den 22. Januar in Genf angesetzt sind. General Idriss hatte signalisiert, die Opposition werde ohne jegliche Vorbedingungen an den Verhandlungen in der Schweiz teilnehmen.
Vielleicht war diese Ankündigung der eigentliche Grund für den "internen Coup". Man wollte dem Chef des SMC zeigen, wie vergänglich seine Macht und sein Einfluss sein können, wenn er aus der Reihe tanzt. Für die Islamische Front ist die Friedenskonferenz grundsätzlich dubios und ohne Vorbedingung ein Verrat.
Die Islamische Front ist das stärkste militärische Rebellenbündnis in Syrien. Sie war am 22. November von insgesamt sieben Rebellengruppen gegründet worden. Darunter waren die radikal-islamistischen Ahrar al-Scham, Suqor al-Scham, die "Armee des Islams", aber auch die bisher als moderat eingeschätzte Liwa Tawhid aus Aleppo. Die Gründung war eine Reaktion auf die erhoffte, aber nicht stattfindende Militärintervention des Westens und die vielen leeren Versprechungen aus den Bündnisländern am Golf, möglichst schnell möglichst viele Waffen zu liefern. Man hatte es satt zu warten.
Gleichzeitig setzte man ein Zeichen: Wir verlassen uns ab sofort nur noch auf uns selbst. Die Ablehnung der syrischen Übergangsregierung in der Türkei und der mit ihr affiliierten FSA war nur eine logische Konsequenz. Sie wurden als Handlanger verschiedener ausländischer Agenten gesehen.
Die ideologischen Unterschiede zu JAN oder ISIL sind prinzipiell nicht sehr groß. Allerdings hat die Islamische Front nationalen Charakter, und ihr Dschihad beschränkt sich bisher auf Syrien und nicht auf die ganze Welt. Zudem soll die Front weit weniger brutal den "Islam mit dem Schwert" durchsetzen, als das etwa die Gruppe ISIL macht. Der Al-Qaida-Ableger aus dem Irak ist berüchtigt für brutale Folter und Exekutionen. Systematisch sind seine Kämpfer auf der Jagd nach kritischen Demokratie-Aktivisten, Christen und Journalisten aus dem In- und Ausland.

Syrische Revolution des Anfangs gibt es nicht mehr

Für Idriss und die FSA war allein die Gründung der neuen großen Militärunion ein Affront. Ehemalige Verbündete sind dadurch weggebrochen. Die militärische Situation der FSA ist ein Fiasko. Einstmals war sie die stärkste Rebellenfraktion. Heute ist sie beinahe zur Bedeutungslosigkeit verdammt. Nur die Unterstützung der USA hält sie am Leben.
Rund 80 Prozent aller befreiten Gebiete werden heute von Islamisten kontrolliert. Zahlenmäßig und waffentechnisch ist die FSA der Islamischen Front, JAN, ISIL oder auch den kurdischen Volksverteidigungskräften (YPG) weit unterlegen. Eine Konfrontation kann sich Idriss mit keiner dieser Gruppen leisten.
Nach den Dementis zu den Vorfällen rund um Bab al-Hawa weiß man, dass Verhandlungen mit der Islamischen Front stattgefunden haben. Was dabei abgemacht wurde, wird sich in den nächsten Tagen und Wochen zeigen. Nach der Stürmung des FSA-Hauptquartiers und der Plünderung ihrer Lagerhäuser steht nun aber ohne jeden Zweifel fest: Die syrische Revolution, die am Anfang für Demokratie und Freiheit kämpfte, gibt es nicht mehr. Die befreiten Gebiete sind in der Hand radikaler Islamisten.

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