Mahamadou Issoufou, der Präsident Nigers, sagt, dass Afrika jährlich 600 Milliarden Dollar Hilfsgelder brauche. Davon würden auch entwickelte Länder profitieren, denn Armut sei eine Ursache für Terror und Migration. Alfred Hackensberger
DIE WELT: Vor Kurzem gingen die Bilder eines Sklavenmarktes in Libyen um die Welt. Sie waren der erste afrikanische Staatsmann, der darauf mit scharfer Kritik reagierte. Wird die unzumutbare Situation der Migranten in Libyen Thema auf dem Gipfeltreffen der Afrikanischen Union und der EU sein?
Mahamadou Issoufou: Die Berichte über den Verkauf von Migranten haben mich und die gesamte afrikanische Öffentlichkeit schockiert. Denn man dachte, diese Zeiten gehörten längst der Vergangenheit an. Selbstverständlich wird Libyen den Gipfel beeinflussen. Das Treffen ist auf die Jugend fokussiert. Es ist die Jugend, die nach Europa emigriert und Opfer dieser Abscheulichkeiten wird. Es handelt sich um Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die vom Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag untersucht werden sollten.
DIE WELT: War es nicht längst bekannt, dass Migranten in Libyen unmenschlich behandelt werden?
Issoufou: Das mag schon sein. Aber dass Migranten als Sklaven verkauft werden, das haben wir so noch nicht beobachtet. Man muss hinzufügen, dass das, was in Libyen passiert, kein Zufall ist. Das Land ist ein sogenannter „failed state“. Es gibt keine funktionierende Regierung. So konnte dieses schreckliche Phänomen heranwachsen. Jetzt müssen wir als AU- und EU-Staatsoberhäupter alles daransetzen, um dem Missbrauch ein Ende zu setzen.
DIE WELT: Viele Jahre lang konnten Migranten auf dem Weg nach Europa ungehindert durch Niger reisen. Seit 2015 ist das gesetzlich verboten. Die Zahl der Durchreisenden sank dramatisch.
Issoufou: Wir haben einen großen Erfolg erzielt. Früher waren es über hunderttausend Menschen pro Jahr, die Niger als Transitland nutzten. Heute sind es weniger als 20.000. Aber um das festzuhalten: Wir machen das nicht wegen Europa. Wir haben eine ethische Pflicht, afrikanische Migranten zu beschützen. Es darf nicht sein, dass sie in der Wüste oder im Meer sterben. Daneben gibt es auch Sicherheitsinteressen. Denn auf dem Rückweg von Libyen nach Niger transportieren Menschenhändler Waffen.
DIE WELT: Allein durch ein Transitverbot wird das Phänomen Migration jedoch nicht verschwinden.
Issoufou: Da haben Sie recht. Das Gesetz anzuwenden kann nur ein Teil sein. Eine andere wichtige Komponente ist Entwicklung. Denn wir müssen uns fragen, warum die Menschen auswandern und die Grundursachen des Problems bekämpfen. Dazu braucht es Entwicklungsprojekte, die Alternativen zur Migration bieten.
DIE WELT: Die EU ist Nigers Hauptpartner im Kampf gegen illegale Migration. Kritische Stimmen behaupten, die EU bestimmt, was Niger zu tun hat.
Issoufou: Nein, auf gar keinen Fall! Wir müssen niemandem gehorchen. Wie schon gesagt, wir folgen menschlichen Gesichtspunkten und wollen Afrikaner beschützen. Wir haben unsere eigenen Pläne!
DIE WELT: Beim Besuch von Bundeskanzlerin Angela Merkel vor einem Jahr forderten Sie einen Marshall-Plan. Die EU gibt im Kampf gegen illegale Migration Hilfsgelder in Millionenhöhe für Niger. Sind Ihre Forderungen inzwischen erfüllt worden?
Issoufou: Der Marshall-Plan war sehr ambitioniert. Aber ich wusste, Angela Merkelsteht dem wohlwollend gegenüber. Die EU unterstützt ja die Länder der Region massiv.
DIE WELT: Ein Marshall-Plan dürfte über herkömmliche Entwicklungshilfe hinausgehen.
Issoufou: Lassen Sie mich an die „Ziele für nachhaltige Entwicklung“ der Vereinten Nationen erinnern. In dieser Nachhaltigkeitsagenda werden 600 Milliarden Dollar pro Jahr als notwendige Unterstützung für eine Weiterentwicklung Afrikas ausgewiesen. Die gegenwärtige Hilfe beträgt 15 Milliarden Dollar. Wir sind also weit davon entfernt, die tatsächlich benötigten Investmenthilfen zu erhalten. Ein Marshall-Plan über 600 Milliarden Dollar ist nicht aus der Luft gegriffen, sondern rational. Das ist auch ein Wunsch von Bundeskanzlerin Merkel. Dieser Plan könnte leicht finanziert werden, wenn sich die entwickelten Länder an die Investmentstudie aus den 70er-Jahren halten würden. Sie sieht eine Hilfe in Höhe von nur 0,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts vor. Das ist nicht belastend und könnte Afrika die notwendigen Ressourcen ermöglichen.
DIE WELT: Migranten aus ganz Afrika waren eine wichtige Einnahmequelle für Niger. Damit ist es vorbei. Besonders betroffen ist Agadez, das Tor für Migranten nach Libyen. In der Stadt mussten Geschäfte und Tankstellen schließen.
Issoufou: Ich kenne die Problematik sehr gut. Deshalb bieten wir im Rahmen des Kampfes gegen illegale Migration alternative Projekte an. Sie werden von der EU finanziert, sind aber leider nicht ausreichend. Deshalb sind wir in Gesprächen, um Investitionen zu erhöhen.
DIE WELT: Wenn die Finanzierung nicht ausreichend ist, was muss die EU noch tun?
Issoufou: Die EU macht bereits sehr viel. 600 Millionen Euro wurden zur Verfügung gestellt, wobei das natürlich noch lange nicht genug ist. Deshalb findet eine Geberkonferenz am 13. und 14. Dezember in Paris statt. Dort soll die Finanzierung eines sozialen Entwicklungsplans für Niger zustande kommen. Von der EU und anderen Geldgebern werden zwischen zwölf und 15 Milliarden Euro über einen Zeitraum von vier Jahren benötigt.
DIE WELT: Was beinhaltet dieser neue Plan?
Issoufou: Die Prioritäten liegen auf der Konsolidierung demokratischer Institutionen und der Infrastruktur. Als großes Land brauchen wir Straßen, Züge. Wir brauchen Energiestrukturen, Telekommunikation, optische Fiber-Kabel. Die Landwirtschaft muss entwickelt werden, damit Niger sich selbst ernähren kann. Jeder sollte Zugang zu Wasser und Elektrizität haben. Dann kommt Bildung, denn Jugendliche brauchen Zukunftsaussichten.
DIE WELT: Das klingt ganz nach einem langen und kostspieligen Engagement der EU in Niger. Was aber passiert, wenn sich etwa die Migrationsrouten ändern? Könnte es sein, dass die EU dann anderen Ländern Priorität einräumt?
Issoufou: Nein. Die Beziehung zur EU bestand bereits vor den Migrationskrisen. Die EU war einer der allerersten Geldgeber Nigers. Es gibt keinen Grund, das nicht fortzusetzen. Es gibt für die EU keinen Grund, sich zurückzuziehen. Denn ein prosperierendes Afrika hat einen positiven Effekt auf die entwickelten Länder. Wachstum in Afrika wird zum Wachstum in Europa beitragen. Die Beziehung zwischen afrikanischem und europäischem Kontinent wird sich weiterentwickeln und noch intensivieren.
DIE WELT: In den letzten Wochen und Monaten gab es Angriffe von radikalen Islamisten auf US-Truppen und die Streitkräfte in Niger. Auch in den Nachbarländern Nigeria, Mali und Burkina Faso reißen die Attentate nicht ab. Dschihadismus scheint sich in Westafrika auszubreiten.
Issoufou: Die Angreifer kamen über die Grenze von Mali. Wir haben auch Probleme am Tschad-See mit Boko Haram. Zudem gibt es die seit Jahren bestehenden Bedrohungen an der Grenze zu Libyen. Diese beiden Fronten geben uns allerdings keinen so großen Anlass zur Besorgnis wie Mali. Dort müssen wir entschieden eingreifen. Es ist ein Kampf gegen Terroristen und die mit ihnen verbundenen kriminellen Netzwerke. Aber wir haben jetzt eine neue Spezialeinheit, die zum Einsatz kommt.
DIE WELT: Sie meinen die G5, die Truppe, die gemeinsam mit dem Tschad, Senegal, Mali und Burkina Faso aufgebaut wurde.
Issoufou: Ja, mit dieser Truppe werden wir dieser gefährlichen Bedrohung aus dem Norden Einhalt gebieten. G5 wird in Kürze voll einsatzbereit sein.
DIE WELT: Was verändert sich mit dieser internationalen Spezialeinheit?
Issoufou: Sie verstärkt die Kapazität unserer Armeen und ist, was geheimdienstliche Operationen betrifft, ein neuer, hilfreicher Baustein.
DIE WELT: Und was ist mit Frankreich und den USA, die seit Jahren in der Region Truppen stationiert haben?
Issoufou: Zweifelsohne ist die Unterstützung der beiden Länder sehr, sehr wichtig. Sie geben ein Gefühl der Sicherheit.
DIE WELT: Politische Beobachter in Paris berichten, die französische Armee könnte ihre Präsenz in der Region zurückschrauben. Wäre die G5 in der Lage, diese große Lücke zu schließen?
Issoufou: Bisher habe ich keine derartigen Informationen. Aber natürlich, die französischen Truppen und auch die US-Amerikaner werden nicht ewig hierbleiben. Unser Ziel ist es natürlich, dass wir früher oder später allein die Verantwortung für die Sicherheit unseres Landes übernehmen.
DIE WELT: Die USA bauen eine große Luftwaffenbasis in der Nähe von Agadez. Viele der Bewohner sehen das nicht gerne, da von der neuen Startbahn auch bewaffnete Drohnen aufsteigen sollen.
Issoufou: Sehen Sie, wir haben ein enges Verhältnis zu Frankreich und Amerika. Die Kapazitäten unseres Militärs sind von der Terrorbedrohung völlig überfordert. Die Menschen müssen verstehen, dass uns nichts anderes übrig blieb, als die Hilfe der befreundeten Nationen anzunehmen. Zumal es ja nicht eine regionale Bedrohung, sondern ein weltweites Problem ist.
DIE WELT: Dschihadismus und Migration – sind das zwei voneinander getrennte Probleme?
Issoufou: Beide sind miteinander verbunden. Armut ist eine der Ursachen für Terrorismus. Armut treibt Menschen auch in die Migration. Wenn wir also Armut richtig bekämpfen, schlagen wir zwei Fliegen mit einer Klappe. Aber es ist ein komplexes Geflecht von Problemen. Nehmen wir den Klimawandel, der eine Ursache der Armut ist. Der Tschad-See schrumpft immer mehr und die Ressourcen für die Bevölkerung schwinden. So kann Boko Haram dort Mitglieder rekrutieren. Klimawandel, Armut, Migration und Terrorismus sind miteinander verwoben.
DIE WELT: Es sieht so aus, als würde Niger mitten im Auge eines Hurrikans sitzen.
Issoufou: Unglücklicherweise stehen wir gleich diversen Bedrohungen gegenüber. Das betrifft nicht nur Niger, die gesamte Region befindet sich im Auge des Hurrikans.
Mahamadou Issoufou wurde 2011 zum Präsidenten Nigers gewählt. Der westafrikanische Wüstenstaat zählt zu den ärmsten Ländern der Welt. Niger war lange Jahre Transitland für Migranten, das ist seit 2015 weitgehend vorbei. Kamen bis dahin noch hunderttausend Menschen pro Jahr, sind es heute 20.000. Die Europäische Union und die Bundesregierung unterstützen Niger finanziell im Kampf gegen illegale Migration.
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