Erstmals marschiert die Türkei im Kampf gegen Kurden mit Bodentruppen in Syrien ein. Doch das Regime in Damaskus und seine Helfer in Moskau halten still – und sogar Washington hilft seinen Verbündeten nicht.
Alfred Hackensberger
Alfred Hackensberger
Lange hatte die Türkei auf diesen Moment gewartet, am Sonntag um 8.05 war es dann so weit. Das türkische Militär und seine Hilfstruppen der Freien Syrischen Armee (FSA) starteten ihre Bodenoffensive in die Region Afrin. Damit führt die Türkei zum ersten Mal seit Beginn des syrischen Bürgerkriegs eine groß angelegte Operation im Nachbarland gezielt gegen die Kurdenmiliz der YPG durch.
Als Vorbereitung auf die Bodenoffensive hatten am Samstag nach türkischen Angaben 72 Kampfflugzeuge insgesamt 153 Bunker, Verstecke und Munitionsdepots zerstört. „Nahezu alle Ziele wurden getroffen“, versicherte der türkische Premierminister Binali Yildirim am Sonntag in Istanbul.
„Je nach den Entwicklungen am Boden werden unsere Einheiten die notwendigen Schritte einleiten“, sagte Yildirim. Sinn der Operation mit dem zynischen Namen Olivenzweig ist demnach die Einrichtung einer „30 Kilometer tiefen Sicherheitszone“.
„Die Operation wird mit Höchstgeschwindigkeit durchgeführt“, behauptete Yildirim, als könne es keine Komplikationen geben. Dabei birgt die Invasion in die Kurdenregion Afrin, eigentlich ein Unterbezirk der Provinz Aleppo, völlig unkalkulierbare Risiken. Jeder Eingriff von außen in den seit sieben Jahren andauernden syrischen Bürgerkrieg hat noch immer Folgereaktionen provoziert, die vorher kaum abzusehen waren.
Mit Afrin drohen neue militärische sowie diplomatische Konfrontationen und immenses menschliches Leid. Ankara scheint diese Risiken der Intervention völlig auszublenden, die Euphorie über den so lang ersehnten Militärschlag gegen die syrische Kurdenmiliz überdeckt alles.
Bisher hatte die Türkei den Kampf gegen die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) als Vorwand benutzt, um auch gegen die kurdischen Volksverteidigungskräfte vorzugehen. Die YPG ist Ankara so verhasst, weil sie ein Ableger der Kurdischen Arbeiterpartei PKK ist, die seit Jahrzehnten die türkische Regierung bekämpft. Die bezeichnet die Präsenz der YPG unmittelbar an der syrischen Grenze als „Bedrohung“.
Bereits wenige Stunden nach Beginn der Operation gab es in den türkischen Medien Erfolgsmeldungen. Die Armee habe erste Dörfer und Gebiete eingenommen, hieß es, was jedoch von der YPG umgehend dementiert wurde. „Ja, es finden Kämpfe statt“, berichtet Rosch Moussa, ein Journalist in Afrin, gegenüber WELT. „Sie greifen von Norden, Süden, Westen und Osten an.“
Aber die Meldungen von türkischen Eroberungen seien falsch. „Es wurden bereits zwei oder drei türkische Panzer zerstört“, behauptet Moussa. Er war am Sonntagmorgen, wie er erzählt, an mehreren Frontabschnitten unterwegs – darunter auch in einem angeblich von der Türkei eroberten Teil. Moussa ist überzeugt, dass die Intervention der Türkei nicht nach Plan gehen wird.
Kippt die Stimmung in der Türkei?
Man muss nicht wie Moussa Sympathie für die YPG haben, um die Stärke der Kurdenmiliz anzuerkennen. Sie war die entscheidende Einheit bei der vernichtenden Niederlage des IS in Syrien. Nicht umsonst erhielt sie amerikanische Unterstützung durch US-Luftschläge und umfangreiche Waffenlieferungen. Sollte es zu hohen Verlusten unter türkischen Soldaten kommen, könnte die nationale Hochstimmung in der Türkei ins Gegenteil umkippen.
Am Sonntag schlugen zum wiederholten Male Raketen aus Afrin in den türkischen Städten Kilis und Reyhanli ein. Die gesamte Region Afrin zieht sich an der türkischen Grenze entlang. Die Invasion ist ein unglaubliches Sicherheitsrisiko für die Bevölkerung aller nahe gelegenen Orte. Es könnte noch viel mehr Todesopfer geben, wenn die YPG den Raketenbeschuss intensiviert. Das wäre eine harte Belastungsprobe für die öffentliche Meinung in der Türkei.
In Syrien kämpft bisher hauptsächlich die FSA an vorderster Front für die Türkei. Mit der disziplinierten und hoch motivierten YPG sind diese Rebellengruppen jedoch nicht zu vergleichen. Die FSA zog am Sonntag mit Gott-ist-groß-Rufen in den Kampf, ist aber eine Schwachstelle in der Offensive der Türkei. Sie erhält ihren Sold von Ankara und wird von dort nach Belieben eingesetzt. Die meist islamistischen FSA-Einheiten sind jedoch unberechenbar. Der Pfarrer einer kleinen christlichen Gemeinde in der Region Afrin hat im Gespräch mit WELT um Hilfe vor dem „Angriff der Türkei und ihrer Dschihadisten“ gebeten.
Moskau will die Türkei als Partner nicht verlieren
In Afrin wurden bisher laut YPG sechs Zivilisten durch türkische Luftangriffe getötet und 13 verletzt. Russland forderte die Türkei am Sonntag zur Zurückhaltung auf, aber es war die Führung in Moskau, die Ankara grünes Licht für die Offensive gegeben hat. Denn nur mit russischer Duldung können türkische Flugzeuge über Syrien fliegen.
Aber offensichtlich ist Moskau die Türkei als Partner für die Verhandlungen über die Zukunft Syriens so wichtig, dass man ihn nicht verlieren will. Ankara sitzt dabei mit Teheran, Damaskus und Moskau an einem Tisch.
Eine Eskalation der Offensive ist nicht im Interesse Russlands. Deshalb wurde der Türkei anscheinend nur die Einrichtung einer 30 Kilometer tiefen Sicherheitszone zugestanden und nicht die Eroberung der gesamten Region Afrin. Dort leben nach Schätzungen rund eine Million Menschen.
Gegen einen Vormarsch auf die Großstadt Afrin spricht aus Sicht Moskaus auch, dass damit die USA unter Zugzwang gerieten. Am Sonntag gab es keine direkte Stellungnahme zum Beginn der türkischen Bodenoffensive. Das US-Außenministerium warnte nur allgemein vor einem Risiko für die Sicherheit der gesamten Region.
Allerdings würden hohe zivile Opferzahlen und eine sich anbahnende Niederlage der YPG alles verändern. Die USA wären mehr oder weniger gezwungen einzugreifen, nachdem diplomatische Versuche, den Nato-Partner Türkei von einer Invasion abzuhalten, scheiterten. Dann wäre allerdings die Frage, wie Russland darauf reagieren würde. Eine weitere Unwägbarkeit stellt das syrische Regime dar.
Es hat gegen den türkischen Militäreinsatz protestiert und angekündigt, jede türkische Maschine im syrischen Luftraum abzuschießen. Momentan hält Damaskus jedoch still. Syriens Diktator Baschar al-Assad steht unter dem Druck seines Verbündeten Russland, dem er sein Überleben verdankt.
Aber die syrische Armee könnte, wie schon oft geschehen, wieder einmal unkalkuliert reagieren. Schließlich kommt sie weit besser mit den Kurden aus als mit den verhassten Rebellen, die auf der Seite Ankaras kämpfen. Die türkische Invasion gleicht alles in allem einem Roulettespiel.
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