Der Mord am säkulären Oppositionspolitiker Belaid hat
Tunesien erschüttert. Das Musterland des Arabischen Frühlings droht im
Chaos zu versinken. Schuld daran sind Islamisten. Doch es gibt
Widerstand. Von Alfred Hackensberger
Der Sarg war in eine
tunesische Nationalflagge gehüllt. Auf dem roten Halbmond mit Stern
lagen Blumensträuße. "Der Kampf geht weiter", riefen Familienangehörige,
Politikerkollegen und Anwälte in schwarzen Roben vor dem Haus des Toten
im Stadtteil Dschebel al-Dschaloud von Tunis.
Die Sargträger
hatten Mühe sich den Weg durch die Menge zu bahnen. Tausende von
Menschen warteten in den umliegenden Straßen, um Schokri Belaid das
letzte Geleit zu geben. Der 48-jährige Oppositionspolitiker war am
vergangenen Mittwoch von Unbekannten mit vier Schüssen getötet worden.
Belaids schonungslose Kritik an der Regierung und an der das Kabinett
dominierende Ennahda-Partei hatte ihn populär und beliebt gemacht.
Seine Ermordung
löste eine Welle des Protests aus. Mehr als ein Dutzend Parteibüros von
Ennahda wurden angezündet. "Mörder, Mörder", rufen die Teilnehmer der
Beerdigung und nennen dabei den Namen von Raschid Ghannouchi, dem Führer
von Ennahda.
Viele Frauen sind gekommen
Viele Frauen
sind gekommen, was sonst bei Trauerzügen nicht der Fall ist. "Wir werden
das nicht hinnehmen", sagt Moufida Abassi, "auch wenn uns die Regierung
mundtot machen will." Abassi ist Fernsehjournalistin und war mit dem
Ermordeten befreundet. "Wir haben von Anfang an vor den Islamisten
gewarnt. Sie sind gefährlich."
Während der
25-jährigen Diktatur von Zine al-Abidine Ben Ali saßen die Anhänger
Ennahdas im Gefängnis oder waren im Exil. Wenige Monate nach der
Revolution eröffneten sie in allen Städten Büros, kontrollierten die
Moscheen und konnten sich einen aufwendigen Wahlkampf leisten, der
entscheidenden Anteil an ihrem Sieg 2011 hatte.
"Das Geld dazu
kam aus Katar", meint Frau Abassi. Viel wichtiger sei aber, sich an die
jüngere Vergangenheit zu erinnern. Ennahda kämpfte ohne Rücksicht auf
Menschenleben gegen die Diktatur. "Die Bombenanschläge von 1986 auf
Touristenhotels in Sousse und Monastir darf man nicht vergessen. Genauso
wenig die Säureanschläge auf Journalisten und Richter 1990."
Keine Erinnerungen aus dieser Zeit
Viele der jungen
Teilnehmer der Beerdigung haben keine Erinnerungen aus dieser Zeit. Für
sie gibt die Gegenwart genug Anlass, um Ennahda abzulehnen. "Sie
arbeiten mit den radikalen Salafisten zusammen, die vor Mord nicht
zurückschrecken", sagt Mohammed, ein arbeitsloser Ingenieur. Er meint
damit die Ligen zum Schutz der Revolution, die oppositionelle
Journalisten, Politiker und Künstler angreifen.
"Diese Leute
sind im Namen von Ennahda unterwegs", glaubt Dschilani Hammami, der
Sprecher der Arbeiterpartei. "Sie sind entweder Mitglieder von Ennahda
oder stehen ihr nahe."
Die
stellvertretende Generalsekretärin seiner Partei war erst vor einem
Monat von einem dieser selbst ernannten Beschützer der Revolution mit
einem Messer attackiert worden. Drei Tage zuvor hatte es zwei
Journalisten getroffen. Auf der Avenue Bourghiba wurden sie von Männern
geschlagen und bedroht, die ganz offen zugaben, dass sie Mitglieder
dieser Ligen sind.
Polizeibeamte beschweren sich
"Die regierende
Ennahda-Partei fand immer Entschuldigungen, um nicht gegen diese
Salafisten vorzugehen", erläutert Allay Alani, ein auf radikale
Islamisten spezialisierter Professor in Tunis.
"Raschid
Ghannouchi sagte, man müsse den Vergehen mit möglichst viel Geduld
begegnen." Beamte der tunesischen Sicherheitsbehörden beschwerten sich.
"Sobald wir jemand verhafteten, wurde er wenige Tage danach einfach
wieder freigelassen", erklärte ein Polizist, der unerkannt beleiben
wollte.
"Natürlich
haben wir Angst, dass der Mord an meinem Freund Belaid nicht der einzige
bleiben wird", sagt die TV-Journalistin Abassi. "Wir müssen uns auf
alles gefasst machen. Die Salafisten unterhalten Trainingscamps und üben
Krieg in Sporthallen."
Die üblichen Auseinandersetzungen
Die
Gewerkschaften hatten für Freitag einen Generalstreik ausgerufen.
Geschäfte blieben geschlossen, nur die Busse fuhren. Gewaltsame
Auseinandersetzungen hatte es anfangs nur in Gafsa gegeben, einer Stadt
im Landesinnern. Erst nach der Beerdigung von Belaid strömten
Demonstranten in Tunis auf die Avenue Bourghiba, die seit der Revolution
zum rituellen Ort des Protestes wurde.
Wie üblich kam
es vor den Stacheldrahtabsperrungen des Innenministeriums zu
Auseinandersetzungen mit der Bereitschaftspolizei. Tunesien galt als
Musterland für einen demokratischen arabischen Frühling. Dieser Ruf ist
ernsthaft gefährdet. Man kann nur hoffen, dass das Land zwei Jahre nach
der Revolution nicht doch noch ein ähnlich gewaltsames Schicksal trifft
wie Ägypten oder Libyen.
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