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"Die Salafisten üben den Krieg in Sporthallen"

Der Mord am säkulären Oppositionspolitiker Belaid hat Tunesien erschüttert. Das Musterland des Arabischen Frühlings droht im Chaos zu versinken. Schuld daran sind Islamisten. Doch es gibt Widerstand. Von

Eine Frau hält das Foto des ermordeten Oppositionspolitiker Chokri Belaid hoch. Er soll auf einem Friedhof nahe der Hauptstadt Tunis bestattet werden. Die Soldaten stehen dort Wache – aus Angst vor neuen Ausschreitungen
Foto: AFP Eine Frau hält das Foto des ermordeten Oppositionspolitiker Chokri Belaid hoch. Er soll auf einem Friedhof nahe der Hauptstadt Tunis bestattet werden. Die Soldaten stehen dort Wache – aus Angst vor neuen Ausschreitungen
Der Sarg war in eine tunesische Nationalflagge gehüllt. Auf dem roten Halbmond mit Stern lagen Blumensträuße. "Der Kampf geht weiter", riefen Familienangehörige, Politikerkollegen und Anwälte in schwarzen Roben vor dem Haus des Toten im Stadtteil Dschebel al-Dschaloud von Tunis.
Die Sargträger hatten Mühe sich den Weg durch die Menge zu bahnen. Tausende von Menschen warteten in den umliegenden Straßen, um Schokri Belaid das letzte Geleit zu geben. Der 48-jährige Oppositionspolitiker war am vergangenen Mittwoch von Unbekannten mit vier Schüssen getötet worden. Belaids schonungslose Kritik an der Regierung und an der das Kabinett dominierende Ennahda-Partei hatte ihn populär und beliebt gemacht.

Seine Ermordung löste eine Welle des Protests aus. Mehr als ein Dutzend Parteibüros von Ennahda wurden angezündet. "Mörder, Mörder", rufen die Teilnehmer der Beerdigung und nennen dabei den Namen von Raschid Ghannouchi, dem Führer von Ennahda.

Viele Frauen sind gekommen

Viele Frauen sind gekommen, was sonst bei Trauerzügen nicht der Fall ist. "Wir werden das nicht hinnehmen", sagt Moufida Abassi, "auch wenn uns die Regierung mundtot machen will." Abassi ist Fernsehjournalistin und war mit dem Ermordeten befreundet. "Wir haben von Anfang an vor den Islamisten gewarnt. Sie sind gefährlich."
Während der 25-jährigen Diktatur von Zine al-Abidine Ben Ali saßen die Anhänger Ennahdas im Gefängnis oder waren im Exil. Wenige Monate nach der Revolution eröffneten sie in allen Städten Büros, kontrollierten die Moscheen und konnten sich einen aufwendigen Wahlkampf leisten, der entscheidenden Anteil an ihrem Sieg 2011 hatte.
"Das Geld dazu kam aus Katar", meint Frau Abassi. Viel wichtiger sei aber, sich an die jüngere Vergangenheit zu erinnern. Ennahda kämpfte ohne Rücksicht auf Menschenleben gegen die Diktatur. "Die Bombenanschläge von 1986 auf Touristenhotels in Sousse und Monastir darf man nicht vergessen. Genauso wenig die Säureanschläge auf Journalisten und Richter 1990."

Keine Erinnerungen aus dieser Zeit

Viele der jungen Teilnehmer der Beerdigung haben keine Erinnerungen aus dieser Zeit. Für sie gibt die Gegenwart genug Anlass, um Ennahda abzulehnen. "Sie arbeiten mit den radikalen Salafisten zusammen, die vor Mord nicht zurückschrecken", sagt Mohammed, ein arbeitsloser Ingenieur. Er meint damit die Ligen zum Schutz der Revolution, die oppositionelle Journalisten, Politiker und Künstler angreifen.
"Diese Leute sind im Namen von Ennahda unterwegs", glaubt Dschilani Hammami, der Sprecher der Arbeiterpartei. "Sie sind entweder Mitglieder von Ennahda oder stehen ihr nahe."
Die stellvertretende Generalsekretärin seiner Partei war erst vor einem Monat von einem dieser selbst ernannten Beschützer der Revolution mit einem Messer attackiert worden. Drei Tage zuvor hatte es zwei Journalisten getroffen. Auf der Avenue Bourghiba wurden sie von Männern geschlagen und bedroht, die ganz offen zugaben, dass sie Mitglieder dieser Ligen sind.

Polizeibeamte beschweren sich

"Die regierende Ennahda-Partei fand immer Entschuldigungen, um nicht gegen diese Salafisten vorzugehen", erläutert Allay Alani, ein auf radikale Islamisten spezialisierter Professor in Tunis.
"Raschid Ghannouchi sagte, man müsse den Vergehen mit möglichst viel Geduld begegnen." Beamte der tunesischen Sicherheitsbehörden beschwerten sich. "Sobald wir jemand verhafteten, wurde er wenige Tage danach einfach wieder freigelassen", erklärte ein Polizist, der unerkannt beleiben wollte.
"Natürlich haben wir Angst, dass der Mord an meinem Freund Belaid nicht der einzige bleiben wird", sagt die TV-Journalistin Abassi. "Wir müssen uns auf alles gefasst machen. Die Salafisten unterhalten Trainingscamps und üben Krieg in Sporthallen."

Die üblichen Auseinandersetzungen

Die Gewerkschaften hatten für Freitag einen Generalstreik ausgerufen. Geschäfte blieben geschlossen, nur die Busse fuhren. Gewaltsame Auseinandersetzungen hatte es anfangs nur in Gafsa gegeben, einer Stadt im Landesinnern. Erst nach der Beerdigung von Belaid strömten Demonstranten in Tunis auf die Avenue Bourghiba, die seit der Revolution zum rituellen Ort des Protestes wurde.
Wie üblich kam es vor den Stacheldrahtabsperrungen des Innenministeriums zu Auseinandersetzungen mit der Bereitschaftspolizei. Tunesien galt als Musterland für einen demokratischen arabischen Frühling. Dieser Ruf ist ernsthaft gefährdet. Man kann nur hoffen, dass das Land zwei Jahre nach der Revolution nicht doch noch ein ähnlich gewaltsames Schicksal trifft wie Ägypten oder Libyen.

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