Viele Tunesier vermuten in Rachid Ghanouchi, Gründer der
Regierungspartei Ennahda, den Drahtzieher des Mordes an dem
Oppositionellen Schokri Belaid. Er soll inzwischen das Land verlassen
haben. Von Alfred Hackensberger
Rund um das
Innenministerium sind die Straßen gesperrt. Lastwagen, Busse und
Einsatzwagen der Sicherheitsbehörden sind überall im Zentrum zu sehen.
An der Avenue Bourghiba stehen Hunderte von Bereitschaftspolizisten in
ihren schwarzen Uniformen mit Schilden und Helmen. Eine Szenerie, die an
die Revolution von 2011 erinnern. Die Prachtstraße und Flaniermeile der
tunesischen Hauptstadt war das Epizentrum der Proteste, die den
Diktator Zine al-Abidine Ben Ali zur Flucht nach Saudi-Arabien zwangen.
Wochenlang
hatten sich hier Regimegegner Straßenschlachten mit der Polizei
geliefert. Heute, fast genau zwei Jahre danach, wird erneut für den
Rücktritt der Regierung demonstriert. Wie sich die Bilder gleichen: Es
gibt gewaltsame Konfrontationen mit prügelnden Polizisten. Tränengas
wird eingesetzt. Demonstranten waschen sich die roten, gereizten Augen,
einige müssen sich am Straßenrand übergeben. Es sind wenige Tausende,
die eine zweite Revolution fordern.
"Freitag ist der
wichtigste Tag", sagt Karim Ben Smail, ein Verleger aus Tunis. "Da
findet die Beerdigung von Schokri Belaid, statt, der am Mittwoch
erschossen wurde. Außerdem ist Generalstreik. Hunderttausende von
Menschen werden auf die Straße gehen." Ben Smail ist der Besitzer von
Ceres Edition, dem größten Verlag Nordafrikas. Er hat zahlreiche Bücher
über die Jasminrevolution veröffentlicht. "Dieser Freitag kann zu einem
entscheidenden Tag in der Geschichte unseres Landes werden."
Musterland der neuen Demokratiebewegungen
Tunesien galt
bisher als Musterland der neuen Demokratiebewegungen in den arabischen
Ländern. Die Selbstverbrennung des arbeitslosen Universitätsabsolvent
Mohamed Bouazizi gilt als Startschuss für den Arabischen Frühling. Wie
ein Flächenbrand weitete sich die Revolte gegen Diktatoren und
autokratische Herrscher über Libyen und Ägypten, bis in den Jemen,
Bahrain und nach Syrien aus.
Im Gegensatz zu
den Revolutionen gegen Gaddafi oder Mubarak fand in Tunesien eine
friedliche Umwälzung statt. Der Sieg der islamistischen Partei Ennahda
bei den ersten freien Wahlen schien, gerade für den Westen, ein
Schönheitsfehler zu sein. Nachdem Ennahda jedoch beteuerte, keinen
islamistischen Staat auf Basis der Scharia zu wollen, gab man sich
zufrieden.
Ennahda bildete
eine Regierungskoalition mit zwei säkularen Parteien. Aber von
politischem Frieden konnte keine Rede sein. Nach zwei Jahren ist immer
noch nicht klar, wie die neue Verfassung einer Demokratie nach der
Diktatur Ben Alis aussehen soll.
Schuß aus einem fahrenden Auto
Am Mittwochmorgen hatten unbekannte Täter in Tunis Belaid aus einem fahrenden Auto heraus erschossen. Der Mord an dem Oppositionellen und Menschenrechtsaktivisten schockierte Tunesien und ließ die bestehenden Konflikte explodieren. Spontan gingen die Menschen von Tunis bis Sousse und auch Sidi Bouzid, in dem sich Bouaziz verbrannt hatte, auf die Straße.
Der Zorn
richtete sich hauptsächlich gegen Ennahda. Mindestens fünf ihrer
Parteibüros wurden noch am Tag des Mordes abgefackelt. "Ennahda und
Ghanouchi sind schuld am Tod meines Mannes", sagte die Witwe des
getöteten Politikers im tunesischen Fernsehen. "Alle Leute, für die
Freiheit und Demokratie keine leeren Worte sind, denken genau so",
behauptet der Publizist Ben Smail.
Rachid
Ghanouchi ist der Gründer von Ennahda und gilt als ihr "intellektueller
Führer". Nach 22 Jahren im Exil kam er Anfang vergangenen Jahres in sein
Heimatland zurück. Mittlerweile soll "der Retter Tunesiens", wie ihn
sein Anhänger damals bezeichneten, erneut in Richtung London
verschwunden sein. Für viele ein Indiz, dass er hinter dem Mord an
Belaid steckt.
Harscher Kritiker der Ennahda-Partei
Der
Oppositionspolitiker war für seine harsche Kritik an der Regierung,
insbesondere der dominierenden islamistischen Ennahda-Partei, bekannt.
Noch am Vorabend seines Todes hatte er in einer Fernsehsendung von
Nessma TV die zunehmende politische Gewalt verurteilt, die von "gewissen
politischen Parteien methodisch praktiziert" werde. "Er meinte damit
die Liga zum Schutz der Revolution", erklärt Verleger Ben Smail.
Das seien
Salafisten und andere extreme Muslime, die mit Gewalt gegen politische
Gegner vorgingen. "Aber sie hacken auch Webseiten, wie sie es bei meinem
Verlag machten." Es gäbe ein Video, in dem Ghannouchi sich mit einer
dieser Gruppen treffe, die auch bewaffnet seien und in Wäldern
Trainingscamps unterhielten. "Man kann Ghannouchi deutlich hören",
erzählt Ben Smail, "wie er zu den jungen Leuten sagt, bitte bewahrt erst
mal Ruhe, ihr braucht keine Angst zu haben, eure Zeit wird ganz
bestimmt kommen."
Laut einem
Bericht der Konrad-Adenauer-Stiftung in Tunesien wird Ghannouchi "auch
nach informellen Angaben aus dem Innenministerium als Drahtzieher und
direkter Auftraggeber der Ermordung Belaids vermutet". Das Attentat soll
demnach von führenden Figuren des Geheimdienstes, die auf Geheiß
Ghannouchis dort installiert worden waren, durchgeführt worden sein.
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