Direkt zum Hauptbereich

Tunesiens Angst vor einer zweiten Revolution

Zwei Wochen lang versuchte Tunesiens Premier Hamadi Dschebali, ein neues parteiloses Kabinett zu bilden. Doch ausgerechnet die eigene Partei, die islamistische Ennahda, entzieht ihm die Unterstützung. Von



Ennahda-Anhänger demonstrieren nach dem Rücktritt Dschebalis in Tunis
Foto: dpa Ennahda-Anhänger demonstrieren nach dem Rücktritt Dschebalis in Tunis
Die Pressekonferenz wurde live im Fernsehen übertragen. "Meine Initiative blieb erfolglos", verkündete der tunesische Premierminister Hamadi Dschebali. "Wie versprochen; trete ich nun als Regierungschef zurück." Seit knapp zwei Wochen hatte der 63-Jährige versucht, ein neues parteiloses Kabinett zu bilden. "Unpolitisch und von jeder Ideologie unabhängig" wünschte es sich Dschebali. Die Opposition begrüßte das Vorhaben. Aber ausgerechnet die eigene Partei entzog dem Premier die Unterstützung.
Die islamistische Ennahda behauptete, sie sei nicht konsultiert worden. Zehntausende von Parteianhängern demonstrierten im Zentrum von Tunis. "Dschebali ist zwar stellvertretender Generalsekretär unserer Partei", sagt Nabil, ein junger Student mit einer tunesischen Flagge in der Hand. "Gerade jetzt in der Krise braucht das Land keine Technokraten, sondern eine klare Führung."

Der scheidende Premier könnte auch der nächste Premier sein: Hamadi Dschebali
Foto: REUTERS Der scheidende Premier könnte auch der nächste Premier sein: Hamadi Dschebali
Am 6. Februar war der Oppositionspolitiker Schukri Belaid vor seinem Haus in Tunis von Unbekannten mit vier Schüssen niedergestreckt worden. Seine Ermordung löste landesweite Proteste aus. Die Gewerkschaften erklärten einen Generalstreik. Der Ärger richtet sich hauptsächlich gegen Ennhada. Belaid war bekannt für seine harsche Kritik an der Regierungspartei. Der 48-jährige hatte die zunehmende Gewalt angeprangert, die von den Islamisten ausginge. "Mörder, Mörder" skandierten die Protestierenden und meinten damit Ennhada-Führer Raschid Ghanuschi. Mindestens fünf Ennahda-Büros wurden in Brand gesteckt.

Bundesregierung beobachtet Lage aufmerksam

Im Oktober 2011, neun Monate nach dem Sturz des Diktators Sine al-Abidin Bin Ali, hatten die Islamisten die ersten freien Wahlen gewonnen. Damals verbreiteten sie das Image einer moderat islamistischen Partei. Doch Ennahda-Gründer Ghanuschi unterhält gute Kontakte zu radikalen Salafisten. Bei einem Treffen, das gefilmt wurde, verspricht der den Extremisten, "eure Zeit wird kommen." Es sind Salafisten, die Journalisten, Politiker und Künstler gewaltsam attackieren.
Die Bildung einer technokratischen Regierung war der Versuch einer Schadensbegrenzung. Dschebali hätte seine angeschlagene Partei aus der Regierungsverantwortung und damit zum Teil auch aus der Schusslinie der Öffentlichkeit gebracht. Mit seinem Rücktritt will er nach eigenem Bekunden "der enttäuschten Bevölkerung Vertrauen wiedergeben". Doch das fehlt der tunesischen Politik insgesamt. Bisher konnten sich die Parteien nicht einmal auf einen Termin für die ersten freien Parlamentswahlen einigen. Ebenso wenig existiert ein tragfähiger Entwurf für die neue Verfassung. Die wirtschaftliche Lage verschlechtert sich rapide.
"Die Bundesregierung beobachtet die Lage in Tunesien in diesen kritischen Tagen sehr aufmerksam", sagte Außenminister Guido Westerwelle (FDP). Dschebalis Schritt verdiene "Respekt".
Der ehemalige Premierminister könnte auch wieder der neue sein. Er scheint die einzige Integrationsfigur aus den Reihen von Ennahda zu sein, die einen Kompromiss mit der Opposition zustande bringen kann. Doch Dschebali will nur erneut Premier werden, wenn ein Termin für Parlamentswahlen und ein Verfassungsentwurfs vorlägen. Sonst drohe Chaos.
Nach der Ermordung Belaids forderten dessen Anhänger eine "zweite Revolution". So friedlich wie die "Jasminrevolution" 2011 würde diese nicht verlaufen. Einige der Salafisten sind bewaffnet und in Trainingslagern militärisch ausgebildet. Sie werden versuchen, jedes Machtvakuum für sich zu nutzen.

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Geschützt, verdrängt, geduldet

Jüdisches Leben in islamischen Ländern – eine gefährdete Tradition Der durch den Nahostkonflikt genährte Antizionismus in der arabischen Welt lässt beinahe vergessen, dass auch in muslimischen Ländern jüdische Gemeinschaften leben. Allerdings hat die Abwanderung aus wirtschaftlichen Gründen oder aufgrund von politischem Druck fast überall zu einem starken Rückgang der jüdischen Bevölkerung geführt. Im jüdischen Kasino von Tanger scheint die Zeit stehengeblieben zu sein. Gut gekleidete Damen und Herren sitzen an mit grünem Filz belegten Tischen und spielen Karten. Mehrere Kronleuchter geben dem grossen Saal eine exklusive Atmosphäre. Wem nicht nach Kartenspiel zumute ist, der sitzt an der Bar und lässt sich einen Apéritif oder auch nur ein Bier servieren. Eine Abendgesellschaft im Klub, wie sie vo

Christoph Luxenberg - Interview/ English

The Virgins and the Grapes: the Christian Origins of the Koran A German scholar of ancient languages takes a new look at the sacred book of Islam. He maintains that it was created by Syro-Aramaic speaking Christians, in order to evangelize the Arabs. And he translates it in a new way by Sandro Magister That Aramaic was the lingua franca of a vast area of the ancient Middle East is a notion that is by now amply noted by a vast public, thanks to Mel Gibson’s film “The Passion of the Christ,” which everyone watches in that language. But that Syro-Aramaic was also the root of the Koran, and of the Koran of a primitive Christian system, is a more specialized notion, an almost clandestine one. And it’s more than a little dangerous. The author

Bucha was not an isolated incident - the brutal pillar of Russian military strategy

More than 400 people are said to have been murdered in the Kyiv suburb of Bucha. Some victims show signs of torture or rape. What the Russian military is doing in Ukraine is part of a perfidious strategy. A military strategy that other countries are watching closely – and copying. By Alfred Hackensberger Men who just wanted to buy bread. A family with three children who had sought shelter in the basement. Women hiding in their homes. Now they are all dead. Russian soldiers are said to have murdered them in  cold blood  in Bucha. The mayor of the town northwest of the Ukrainian capital Kyiv spoke of a total of 403 deaths. Some of the victims show signs of torture. Several women were raped. After the Russian soldiers withdrew from Bucha,  the corpses testify to a shocking sequence of violent acts  during the occupation of the city. Human rights organizations and the International Criminal Court (ICC) in The Hague are now investigating whether  war crimes  have been committed. Bucha was n