Der türkische Premier Erdogan ist sich bereits sicher,
dass Syriens Machthaber Chemiewaffen benutzt. US-Außenminister John
Kerry sprach von "starken Beweisen" und einer "schrecklichen Wahl". Von Alfred Hackensberger
Rund um die Uhr stehen
Notarztwagen an der türkischen Grenze bereit. "Es sind mindestens 40
Verwundete, die jeden Tag zu uns gebracht werden", sagt ein wachhabender
türkischer Soldat am Grenzposten von Reyhanli, einem der größten und
wichtigsten Übergänge nach Syrien. "Dort herrscht Krieg, und nur bei uns
können sie richtig behandelt werden", fügt der Soldat hinzu. Seit
letzter Woche wird neuerdings allen aus Syrien ankommenden Patienten
eine Blutprobe entnommen. Getestet wird nach Spuren von chemischen
Kampfstoffen. Man wolle mit allen erdenklichen Mitteln dabei helfen, so
der türkische Außenminister Ahmet Davutoglu, die Urheber von chemischen
Angriffen zur Verantwortung zu ziehen.
Bisher konnten
nur Spuren von Rizin gefunden werden. Ein pflanzliches Gift aus der
Samenschale der Rizinusstaude, was harmlos klingt, aber als Waffe
benutzt werden kann. Es sei noch zu früh, Schlussfolgerungen zu ziehen,
sagte Davutoglu. "Wenn wir endgültige Resultate haben, werden wir sie
öffentlich machen und die zuständigen Institutionen informieren."
Weniger
zurückhaltend zeigte sich Recep Tayyip Erdogan. In einem Interview mit
dem US-Fernsehsender NBC behauptete der türkische Premierminister: "Es
ist evident, das syrische Regime benutzt chemische Waffen und Raketen."
Die rote Linie, die US-Präsident Barack Obama
zum Einsatz von Chemiewaffen gezogen habe, sei bereits seit Langem
überschritten. "Wir wollen, dass die USA mehr Verantwortung als bisher
übernehmen", sagte Erdogan im Interview. Er werde Obama persönlich über
seine Erkenntnisse bei ihrem für den 16. Mai angesetzten Treffen
informieren und über weitere Schritte beraten.
Erdogan machte
keine Angaben darüber, welche Kampfstoffe die Regimetruppen von
Präsident Baschar al-Assad verwendet haben sollen. Der türkische
Regierungschef nannte als Beweise "die Reste von mindestens 200
Raketen", die seiner Meinung nach bei chemischen Attacken eingesetzt
worden waren. Zur Beweislage zählten auch die Verletzungen der Syrier,
die man zur medizinischen Behandlung in die Türkei gebracht hatte. "Es
gibt Patienten, die in unsere Krankenhäuser eingeliefert wurden",
erklärte Erdogan, "nachdem sie von diesen chemischen Waffen verwundet
worden waren."
Verdachtsmomente,
die Rebellen hätten Kampfstoffe dieser Art benutzt, wies der türkische
Premier zurück. "Das kann ich jetzt unter keinen Umständen glauben",
sagte Erdogan entschieden. "Wie sollten sie diese überhaupt erhalten,
oder wer sollte ihnen die gegeben haben?"
Frankreich und Großbritannien berichten Ähnliches
Man kann
gespannt sein, welche Fakten der türkische Regierungschef dem
US-Präsidenten bei ihrem Treffen präsentieren will. Obama hatte "absolut
stichhaltige Beweise" gefordert, die ein wie immer geartetes Eingreifen
der USA rechtfertigen könnten. Erdogan braucht wesentlich mehr als die
von ihm angesprochenen Beweise. Zumal er auch von mindestens 200 Raketen
spricht, deren Sprengsätze mit chemischen Waffen bestückt gewesen sein
sollen.
US-Außenminister
John Kerry sprach am Freitag von "starken Beweisen" für einen
Chemiewaffeneinsatz durch syrische Regierungstruppen. Das "Assad-Regime"
habe eine "schreckliche Wahl" getroffen und zeige die Bereitschaft,
"überall zu töten (...) Gas zu benutzen", sagte Kerry während eines vom
Internetkonzern Google, dem Fernsehsender NBC und dem Außenministerium
in Washington veranstalteten Online-Chats mit Internetnutzern. Für den
Einsatz von Gas gebe es nach Einschätzung der US-Regierung "starke
Beweise", fügte er hinzu.
Nach langem Hin
und Her hat die syrische Regierung am Donnerstag angekündigt, sie werde
ein UN-Team ins Land lassen, das den Einsatz von Chemiewaffen
untersucht. Bei der Wechselhaftigkeit der syrischen Regierung ist diese
Ankündigung jedoch zu bezweifeln. Sollte aber ein UN-Team tatsächlich an
die Arbeit gehen, wird US-Präsident Obama erst die Resultate der
Untersuchung abwarten.
Frankreich und
Großbritannien hatten ähnliche Behauptungen wie die Türkei aufgestellt,
aber nie in dem von Erdogan beschriebenen Ausmaß. Der britische
Geheimdienst will im Besitz von Bodenproben sein, die Spurenelemente von
Sarin aufweisen. Sarin ist, neben VX, das zweite, hochtödliche
Nervengift, das Syrien tonnenweise produziert haben soll. In den
chemischen Waffenlagern, die über das ganze Land verteilt sind, sollen
obendrein Unmengen an Senfgas liegen.
Waffenlager getroffen?
Es ist möglich,
dass eines dieser Lager beim letzten israelischen Bombenangriff in der
Nähe von Damaskus getroffen wurde. Die Explosionen bei dem Angriff der
israelischen Luftwaffe deuten auf einen unterirdischen
Hochsicherheitstrakt hin, der als Lagerstätte für diese Stoffe
prädestiniert wäre. Nach dem Treffer der Rakete dauerte es einige
Momente, bis die große Explosion, anscheinend Stockwerke tiefer unter
der Erdoberfläche, erfolgte und in einem riesigen Feuerball sich den Weg
nach oben bahnte.
Die Reaktion
der libanesischen Hisbollah zeigte, dass mit Sicherheit bei diesem
Angriff auch für sie zugedachte Waffen vernichtet wurden. Hassan
Nasrallah, der Generalsekretär der radikal-schiitischen Organisation,
gab sich kämpferisch wie lange nicht mehr. Aber sein Statement zu dem
Vorfall klang wie eine Trotzreaktion und schien ein Ausdruck von
Hilflosigkeit: Syrien werde jetzt erst recht alle modernen Waffentypen
liefern, die die "Spielregeln in der Region" änderten. Es sei eine
"strategische Reaktion der syrischen Regierung", die "weise Führung und
nicht blanken Zorn" bewiese.
Russland
verteidigte unterdessen das umstrittene Raketengeschäft mit Syrien. "Das
ist kein Verstoß gegen irgendwelche internationalen Vorschriften",
sagte Außenminister Sergej Lawrow bei einem Treffen mit seinen Kollegen
aus Polen und Deutschland in Warschau zu der beabsichtigten
Waffenlieferung. Bei dem Raketenabwehrsystem S-300 handele es sich um
eine Verteidigungswaffe. Bundesaußenminister Guido Westerwelle sagte
hingegen: "Das ist eine Kontroverse zwischen uns." Nach
widersprüchlichen Angaben plant Russland jedoch, vom Verkauf des
Flugabwehrsystems Abstand zu nehmen.
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