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Das angebliche Gift im Blut der syrischen Patienten

Der türkische Premier Erdogan ist sich bereits sicher, dass Syriens Machthaber Chemiewaffen benutzt. US-Außenminister John Kerry sprach von "starken Beweisen" und einer "schrecklichen Wahl". Von

Verwundete Syrer in einem türkischen Krankenhaus
Foto: REUTERS Verwundete Syrer in einem türkischen Krankenhaus
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Rund um die Uhr stehen Notarztwagen an der türkischen Grenze bereit. "Es sind mindestens 40 Verwundete, die jeden Tag zu uns gebracht werden", sagt ein wachhabender türkischer Soldat am Grenzposten von Reyhanli, einem der größten und wichtigsten Übergänge nach Syrien. "Dort herrscht Krieg, und nur bei uns können sie richtig behandelt werden", fügt der Soldat hinzu. Seit letzter Woche wird neuerdings allen aus Syrien ankommenden Patienten eine Blutprobe entnommen. Getestet wird nach Spuren von chemischen Kampfstoffen. Man wolle mit allen erdenklichen Mitteln dabei helfen, so der türkische Außenminister Ahmet Davutoglu, die Urheber von chemischen Angriffen zur Verantwortung zu ziehen.
Bisher konnten nur Spuren von Rizin gefunden werden. Ein pflanzliches Gift aus der Samenschale der Rizinusstaude, was harmlos klingt, aber als Waffe benutzt werden kann. Es sei noch zu früh, Schlussfolgerungen zu ziehen, sagte Davutoglu. "Wenn wir endgültige Resultate haben, werden wir sie öffentlich machen und die zuständigen Institutionen informieren."
Weniger zurückhaltend zeigte sich Recep Tayyip Erdogan. In einem Interview mit dem US-Fernsehsender NBC behauptete der türkische Premierminister: "Es ist evident, das syrische Regime benutzt chemische Waffen und Raketen." Die rote Linie, die US-Präsident Barack Obama zum Einsatz von Chemiewaffen gezogen habe, sei bereits seit Langem überschritten. "Wir wollen, dass die USA mehr Verantwortung als bisher übernehmen", sagte Erdogan im Interview. Er werde Obama persönlich über seine Erkenntnisse bei ihrem für den 16. Mai angesetzten Treffen informieren und über weitere Schritte beraten.
Erdogan machte keine Angaben darüber, welche Kampfstoffe die Regimetruppen von Präsident Baschar al-Assad verwendet haben sollen. Der türkische Regierungschef nannte als Beweise "die Reste von mindestens 200 Raketen", die seiner Meinung nach bei chemischen Attacken eingesetzt worden waren. Zur Beweislage zählten auch die Verletzungen der Syrier, die man zur medizinischen Behandlung in die Türkei gebracht hatte. "Es gibt Patienten, die in unsere Krankenhäuser eingeliefert wurden", erklärte Erdogan, "nachdem sie von diesen chemischen Waffen verwundet worden waren."
Verdachtsmomente, die Rebellen hätten Kampfstoffe dieser Art benutzt, wies der türkische Premier zurück. "Das kann ich jetzt unter keinen Umständen glauben", sagte Erdogan entschieden. "Wie sollten sie diese überhaupt erhalten, oder wer sollte ihnen die gegeben haben?"

Frankreich und Großbritannien berichten Ähnliches

Man kann gespannt sein, welche Fakten der türkische Regierungschef dem US-Präsidenten bei ihrem Treffen präsentieren will. Obama hatte "absolut stichhaltige Beweise" gefordert, die ein wie immer geartetes Eingreifen der USA rechtfertigen könnten. Erdogan braucht wesentlich mehr als die von ihm angesprochenen Beweise. Zumal er auch von mindestens 200 Raketen spricht, deren Sprengsätze mit chemischen Waffen bestückt gewesen sein sollen.
US-Außenminister John Kerry sprach am Freitag von "starken Beweisen" für einen Chemiewaffeneinsatz durch syrische Regierungstruppen. Das "Assad-Regime" habe eine "schreckliche Wahl" getroffen und zeige die Bereitschaft, "überall zu töten (...) Gas zu benutzen", sagte Kerry während eines vom Internetkonzern Google, dem Fernsehsender NBC und dem Außenministerium in Washington veranstalteten Online-Chats mit Internetnutzern. Für den Einsatz von Gas gebe es nach Einschätzung der US-Regierung "starke Beweise", fügte er hinzu.
Nach langem Hin und Her hat die syrische Regierung am Donnerstag angekündigt, sie werde ein UN-Team ins Land lassen, das den Einsatz von Chemiewaffen untersucht. Bei der Wechselhaftigkeit der syrischen Regierung ist diese Ankündigung jedoch zu bezweifeln. Sollte aber ein UN-Team tatsächlich an die Arbeit gehen, wird US-Präsident Obama erst die Resultate der Untersuchung abwarten.
Frankreich und Großbritannien hatten ähnliche Behauptungen wie die Türkei aufgestellt, aber nie in dem von Erdogan beschriebenen Ausmaß. Der britische Geheimdienst will im Besitz von Bodenproben sein, die Spurenelemente von Sarin aufweisen. Sarin ist, neben VX, das zweite, hochtödliche Nervengift, das Syrien tonnenweise produziert haben soll. In den chemischen Waffenlagern, die über das ganze Land verteilt sind, sollen obendrein Unmengen an Senfgas liegen.

Waffenlager getroffen?

Es ist möglich, dass eines dieser Lager beim letzten israelischen Bombenangriff in der Nähe von Damaskus getroffen wurde. Die Explosionen bei dem Angriff der israelischen Luftwaffe deuten auf einen unterirdischen Hochsicherheitstrakt hin, der als Lagerstätte für diese Stoffe prädestiniert wäre. Nach dem Treffer der Rakete dauerte es einige Momente, bis die große Explosion, anscheinend Stockwerke tiefer unter der Erdoberfläche, erfolgte und in einem riesigen Feuerball sich den Weg nach oben bahnte.
Die Reaktion der libanesischen Hisbollah zeigte, dass mit Sicherheit bei diesem Angriff auch für sie zugedachte Waffen vernichtet wurden. Hassan Nasrallah, der Generalsekretär der radikal-schiitischen Organisation, gab sich kämpferisch wie lange nicht mehr. Aber sein Statement zu dem Vorfall klang wie eine Trotzreaktion und schien ein Ausdruck von Hilflosigkeit: Syrien werde jetzt erst recht alle modernen Waffentypen liefern, die die "Spielregeln in der Region" änderten. Es sei eine "strategische Reaktion der syrischen Regierung", die "weise Führung und nicht blanken Zorn" bewiese.
Russland verteidigte unterdessen das umstrittene Raketengeschäft mit Syrien. "Das ist kein Verstoß gegen irgendwelche internationalen Vorschriften", sagte Außenminister Sergej Lawrow bei einem Treffen mit seinen Kollegen aus Polen und Deutschland in Warschau zu der beabsichtigten Waffenlieferung. Bei dem Raketenabwehrsystem S-300 handele es sich um eine Verteidigungswaffe. Bundesaußenminister Guido Westerwelle sagte hingegen: "Das ist eine Kontroverse zwischen uns." Nach widersprüchlichen Angaben plant Russland jedoch, vom Verkauf des Flugabwehrsystems Abstand zu nehmen.

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