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Wie weit der Krieg in Syrien noch geht

Ein verstörendes Video wirft ein neues Licht auf Syrien. Es zeigt einen Fall von Kannibalismus. Unser Reporter kennt diesen Konflikt. Er sucht im Kriegsgebiet nach einer Erklärung. Von
Bilder des Krieges in Syrien
Foto: REUTERS
Leidtragende des Konflikts sind nicht zuletzt die Kinder, wie dieses hier in Aleppo. In der Nähe von Damaskus geriet sogar ein SOS-Kinderdorf zwischen die Fronten.

Gott segne dich! Du zeichnest ihm ja ein Liebesherz auf die Brust", witzelt der Kameramann. Aber zum Lachen ist das knapp eine Minute lange Video nicht. Es ist eines der abscheulichsten Dokumente des seit über zwei Jahren dauernden Bürgerkriegs in Syrien. Ein Rebellenkommandeur schneidet innere Organe aus dem toten Körper eines Regierungssoldaten.
"Ich schwöre zu Gott", sagt er in die Kamera, "ihr Hunde von Baschar al-Assad, wir werden von euren Herzen und Lebern essen. Oh, ihr Helden von Baba Amr, ihr werdet die Alawiten schlachten und ihre Herzen essen." Die umstehenden Männer rufen wieder und wieder: "Gott ist groß!" Dann beißt der Kommandeur in eines der Organe, die er in den Händen hält.
Es ist ein Video, das weltweit Entsetzen hervorruft. Leichenschändung und Kannibalismus waren aus dem syrischen Bürgerkrieg bisher nicht bekannt. Es deutet auf eine Eskalation der Gewalt hin, die besonders westliche Länder in ein Dilemma bringt. In den letzten Monaten überlegten Frankreich und Großbritannien, im Alleingang und ohne Zustimmung der EU-Partner die Rebellen mit Waffen zu beliefern. Sie hoffen, so den Bürgerkrieg, der nach UN-Angaben mehr als 70.000 Menschen das Leben kostete, schneller zu einem Ende zu bringen.
Kampf um Aleppo

Großer moralischer Druck auf den Westen

Zahlen der oppositionellen Beobachtungsstelle für Menschenrechte in London sprechen sogar von 94.000 Toten, nachdem man die Opfer aus den Regierungsgebieten mit eingerechnet habe. Dazu kämen mindestens 25.000 Personen, die verhaftet, eingesperrt oder verschwunden seien. Nicht zu vergessen das Schicksal der 1,5 Millionen Flüchtlinge, die zum Teil unter verheerenden Umständen in Lagern der Nachbarländer Türkei, Jordanien und Libanon leben. Es ist ein großer moralischer Druck, der auf dem Westen lastet. Und die Rebellen verstärken ihn, indem sie immer wieder die Untätigkeit der Weltgemeinschaft beklagen.
Doch nun taucht dieses Video auf, das am 26. März in der Nähe der Stadt Kusair entstanden sein soll. Es scheint zu belegen, was das syrische Regime von Präsident Assad seit Beginn des Aufstands behauptet hat: dass es sich bei den Rebellen lediglich um "Kriminelle und Terroristen" handele, "unterstützt von al-Qaida". Darf man diese Leute, die angeblich für Freiheit und Demokratie kämpfen, noch unterstützen, wenn sie derartige Grausamkeiten begehen und offen zum Massenmord an einer islamischen Glaubensrichtung aufrufen? Oder sind solche Ereignisse zwangsläufige Erscheinungen von Bürgerkriegen? Kann man überhaupt politische Schlüsse daraus ziehen?

Patt zwischen Rebellen und Regimetruppen

Seit einem Jahr herrscht in Syrien ein Patt zwischen Rebellen und Regimetruppen. Als im Juli letzten Jahres der Sturm auf Aleppo, die Industriemetropole des Landes, begann, waren die Hoffnungen aufseiten der Rebellen groß. In wenigen Tagen eroberte man die Hälfte der größten syrischen Stadt und dachte, es würde so weitergehen. "In wenigen Wochen fällt das Regime von Assad", hörte man Menschen überall in Aleppo voller Zuversicht prophezeien.
Heute, ein Jahr und viele Tausende Tote später, ist Ernüchterung eingetreten. Trotz aller Opfer, dem Leiden von so vielen, ist Assad noch im Amt und wird es auf absehbare Zeit bleiben. Seine Truppen haben vor einem Monat eine Offensive begonnen, und sollte sie so weitergehen wie bisher, könnte sie die Machtverhältnisse in Syrien zu seinen Gunsten ändern.
Den Rebellen ist die Frustration immer deutlicher anzumerken. Sie waren im Umgang mit Gefangenen nie zimperlich. Nach ihrem Einmarsch in Aleppo folterten sie systematisch Gefangene. Viele wurden auf dem Hof einer ehemaligen Schule hingerichtet. Dort konnte man täglich sehen, wie die Einschusslöcher an der Schulhofmauer immer zahlreicher wurden. Einige Monate später erzählte ein Kommandeur, dass man keine Gefangenen mehr mache.

Das Töten ist normal geworden

Erst kürzlich habe man die Soldaten an einem eroberten Checkpoint erschossen. "Fünfunddreißig! In den Kopf!", sagte er prahlerisch zu seinem Kameraden, in dem Glauben, der Reporter aus Deutschland verstehe kein Arabisch. Er wollte nicht zeigen, wie normal das Töten für ihn geworden war. Die Abwertung menschlichen Lebens bestimmt den Krieg schon lange. Aber das Video Kusair ist etwas anderes.
Der Kommandant aus der geschmacklosen Aufnahme nennt sich Abu Sakkar, heißt jedoch in Wirklichkeit Khalid al-Hamad. Er ist einer der Gründer der Faruk-Brigaden, die mit 15.000 Mann eine der stärksten Rebellentruppen sind. Im Oktober letzten Jahres baute er seine Truppe auf und kämpft seitdem auf eigene Rechnung in der Gegend von Kusair.
Der Kommandant hat in einem Skype-Gespräch mit Journalisten des US-Magazins "Time" die Tat offen zugegeben und sie auch zu rechtfertigen versucht: "Auf dem Handy des Soldaten fanden wir ein Video von einer Mutter und ihren beiden Töchtern. Beide waren nackt, man hat sie gedemütigt und ihnen einen Stock da und dort hineingeschoben." Hamad gab weiter zu, noch ein anderes Video gedreht zu haben, in dem er ein Mitglied der Schabiha, der berüchtigten Regierungsmiliz, in "große und kleine Stücke" zersäge. Es sei doch völlig normal, dass beide Kriegsparteien solche Videos veröffentlichten – um sich gegenseitig abzuschrecken.

Angst wird zur Waffe beider Seiten

Das ist die uralte Logik der Brutalität, die sich durch die digitalen Medien exponentiell beschleunigt hat: Je länger der Kampf dauert, je mehr er zum Durchhaltekrieg wird, desto mehr wird die Angst zur eigentlichen Waffe beider Seiten. Doch weil alle zunehmend abstumpfen, müssen die Angstreize immer stärker werden, mit die Feinde einander bedrängen. Erhöht werden sie noch durch den religiösen Überbau des Kampfes, der jede Frage von Tod und Leben in den Feuerschein einer Apokalypse taucht und dadurch, das die Eskalation auf einem hohen Niveau begann. Brutalität kennzeichnet dieses Land schon lange. Seit Generationen ist Syrien buchstäblich eine Gewaltherrschaft.
Al-Hamad gibt dem Regime und dessen Gräueltaten die Schuld. Assads Foltersystem habe aus ihm gemacht, was er heute sei. "Ihr seht nicht, was wir sehen, ihr erlebt nicht, was wir erleben. Was ist aus meinen Brüdern, meinen Freunden, den Mädchen aus meinem Wohnviertel geworden, die vergewaltigt wurden?" Al-Hamad spricht von der Belagerung des Stadtteils Baba Amr in Homs durch die syrische Armee. Sie dauerte von Februar bis Mai 2012, und das gesamte Viertel wurde dabei in Schutt und Asche gelegt. Hunderte von Zivilisten und Kämpfern kamen ums Leben.

Auge um Auge, Zahn um Zahn

Der Kommandeur will mit seinem Rachefeldzug nicht aufhören. Nach dem Massaker in der Nähe von Baniyas, bei dem bis zu 800 Sunniten von Regimemilizen Anfang Mai hingeschlachtet worden sein sollen, schwor al-Hamad: "Unser Prinzip lautet Auge um Auge, Zahn um Zahn."
In seiner rigorosen Brutalität mag der Kommandant der Faruk-Brigaden ein Einzelfall sein. Aber sein Gut-und-Böse-Schema ist gefährlich, und viele andere Rebellenkämpfer haben das längst verinnerlicht. "Wir freuen uns schon, wenn wir die Alawiten-Gebiete in Latakia und Tartous erobern", sagen viele Rebellen wenn sie über ihren Kampf gegen die einstige Elite-Minderheit reden, zu der Assad gehört. Und dabei fahren sie sich mit der Handkante quer über den Hals. Der Krieg, das Blut, die Leichen lassen die Menschen abstumpfen.
Vielleicht kann man nur so zwei Jahre Bürgerkrieg durchstehen, in dem man jeden Tag mehrmals dem Tode um Haaresbreite entrinnt. Auch auf der anderen Seite, bei der syrischen Armee, gibt es die gleiche Entwicklung. Dort freut man sich über die Fotos des Armeefotografen, die eine Reihe von toten Rebellen zeigen. Schließlich seien das "Terroristen". Natürlich haben auch die Soldaten Handys erbeutet, auf denen Videos zu sehen sind, in denen ihre Kameraden misshandelt oder getötet werden.

Auch auf Zivilisten zielen sie

Wer Zivilist ist oder nicht, spielt im Bürgerkrieg längst keine große Rolle mehr – weder für das Regime, noch auf Seiten der Rebellen. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch macht al-Hamad unter anderem für den Tod eines 30-jährigen Mannes und eines 13-jährigen Jungen verantwortlich. Sie wurden beim Beschuss von schiitischen Dörfern im Bekaa-Tal getötet, den er befohlen haben soll. Es war eine Vergeltungsaktion auf Angriffe der schiitischen Hisbollah-Miliz, die auf Seiten Assads kämpft. "Wenn wir müssen, zielen wir auch auf Zivilisten", sagte Hamad. "Unsere Zivilisten sind nicht weniger wertvoll als die anderen." Ein Statement, das jeder Rebellenkämpfer unterschreiben würde. Gerade im Zusammenhang mit der Hisbollah, die ihnen allen besonders verhasst ist.
Die Truppe aus dem Libanon hat vor Wochen in die Kämpfe um Kusair eingegriffen. Sie hat der syrischen Armee bisher ungekannte Erfolge gebracht. Eine gefährliche Entwicklung, die al-Hamad und seinen Gefolgsleuten noch mehr Gründe liefert, brutaler und rigoroser gegen Armee und Zivilisten vorzugehen. Die Situation könnte sich hochschaukeln, wechselseitige Vergeltungsanschläge provozieren und einen Krieg der muslimischen Konfessionen auslösen.

Trotz Erklärungen passiert nichts

In Damaskus wurde am 2. Mai das Grab des großen schiitischen Geistlichen Hudschr Ibn-Adi geschändet. Die sunnitischen Täter sagten, es sei im Namen des Islam geschehen. Von der Führung der Freien Syrischen Armee (FSA), die sich gegenüber dem Westen als Führungskraft beweisen will, kam kaum eine nennenswerte Reaktion. Doch das Kannibalen-Video wurde in einer Erklärung missbilligt. Man werde den Urheber zur Rechenschaft ziehen. Aber dies hat die FSA bisher jedes Mal bei Menschenrechtsverletzungen behauptet, ohne dass wirklich etwas geschah. Die Führung der FSA hat im Rebellengebiet wenig zu sagen, und das wenige will man sich nicht verscherzen.
In anderen Gegenden Syriens wird man sich ungläubig abwenden von dem schrecklichen Video. In Dschebel al-Sauwia, in der Provinz von Idlib, oder in der al-Ghrab-Ebene, unweit von Hama, ist konfessioneller Hass nicht verbreitet. Hier leben Sunniten, Christen und Alawiten seit Jahrhunderten friedlich zusammen. "Und so soll es auch bleiben", sagt Abdelasis Nasrallah, der lokale Rebellenkommandeur der Kleinstadt Kalaat al-Madiq. "Wir sind mit den Alawiten in ständigem Kontakt und Christen kämpfen mit uns gemeinsam gegen Assad."
Und der Westen? Der ist bis in diese Regionen noch nicht vorgedrungen. Dort könnte er die Verbündeten finden, die er so unermüdlich sucht. Menschen, die Wahlen, Demokratie und kein islamistisches Kalifat wollen. "Wenn ich nur Waffen aus dem Westen bekäme", sagt Amjad, der Kommandeur der christlichen Brigade. "Die blieben alle bei mir und gingen ganz bestimmt nicht zu den Islamisten."

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