Ein verstörendes Video wirft ein neues Licht auf Syrien.
Es zeigt einen Fall von Kannibalismus. Unser Reporter kennt diesen
Konflikt. Er sucht im Kriegsgebiet nach einer Erklärung. Von Alfred Hackensberger
Gott segne dich! Du
zeichnest ihm ja ein Liebesherz auf die Brust", witzelt der Kameramann.
Aber zum Lachen ist das knapp eine Minute lange Video nicht. Es ist
eines der abscheulichsten Dokumente des seit über zwei Jahren dauernden
Bürgerkriegs in Syrien. Ein Rebellenkommandeur schneidet innere Organe
aus dem toten Körper eines Regierungssoldaten.
"Ich schwöre zu
Gott", sagt er in die Kamera, "ihr Hunde von Baschar al-Assad, wir
werden von euren Herzen und Lebern essen. Oh, ihr Helden von Baba Amr,
ihr werdet die Alawiten schlachten und ihre Herzen essen." Die
umstehenden Männer rufen wieder und wieder: "Gott ist groß!" Dann beißt
der Kommandeur in eines der Organe, die er in den Händen hält.
Es ist ein Video, das weltweit Entsetzen hervorruft.
Leichenschändung und Kannibalismus waren aus dem syrischen Bürgerkrieg
bisher nicht bekannt. Es deutet auf eine Eskalation der Gewalt hin, die
besonders westliche Länder in ein Dilemma bringt. In den letzten Monaten
überlegten Frankreich und Großbritannien, im Alleingang und ohne
Zustimmung der EU-Partner die Rebellen mit Waffen zu beliefern. Sie
hoffen, so den Bürgerkrieg, der nach UN-Angaben mehr als 70.000 Menschen
das Leben kostete, schneller zu einem Ende zu bringen.
Großer moralischer Druck auf den Westen
Zahlen der
oppositionellen Beobachtungsstelle für Menschenrechte in London sprechen
sogar von 94.000 Toten, nachdem man die Opfer aus den
Regierungsgebieten mit eingerechnet habe. Dazu kämen mindestens 25.000
Personen, die verhaftet, eingesperrt oder verschwunden seien. Nicht zu
vergessen das Schicksal der 1,5 Millionen Flüchtlinge, die zum Teil
unter verheerenden Umständen in Lagern der Nachbarländer Türkei,
Jordanien und Libanon leben. Es ist ein großer moralischer Druck, der
auf dem Westen lastet. Und die Rebellen verstärken ihn, indem sie immer
wieder die Untätigkeit der Weltgemeinschaft beklagen.
Doch nun taucht
dieses Video auf, das am 26. März in der Nähe der Stadt Kusair
entstanden sein soll. Es scheint zu belegen, was das syrische Regime von
Präsident Assad seit Beginn des Aufstands behauptet hat: dass es sich
bei den Rebellen lediglich um "Kriminelle und Terroristen" handele,
"unterstützt von al-Qaida". Darf man diese Leute, die angeblich für
Freiheit und Demokratie kämpfen, noch unterstützen, wenn sie derartige
Grausamkeiten begehen und offen zum Massenmord an einer islamischen
Glaubensrichtung aufrufen? Oder sind solche Ereignisse zwangsläufige
Erscheinungen von Bürgerkriegen? Kann man überhaupt politische Schlüsse
daraus ziehen?
Patt zwischen Rebellen und Regimetruppen
Seit einem Jahr
herrscht in Syrien ein Patt zwischen Rebellen und Regimetruppen. Als im
Juli letzten Jahres der Sturm auf Aleppo, die Industriemetropole des
Landes, begann, waren die Hoffnungen aufseiten der Rebellen groß. In
wenigen Tagen eroberte man die Hälfte der größten syrischen Stadt und
dachte, es würde so weitergehen. "In wenigen Wochen fällt das Regime von
Assad", hörte man Menschen überall in Aleppo voller Zuversicht
prophezeien.
Heute, ein Jahr
und viele Tausende Tote später, ist Ernüchterung eingetreten. Trotz
aller Opfer, dem Leiden von so vielen, ist Assad noch im Amt und wird es
auf absehbare Zeit bleiben. Seine Truppen haben vor einem Monat eine
Offensive begonnen, und sollte sie so weitergehen wie bisher, könnte sie
die Machtverhältnisse in Syrien zu seinen Gunsten ändern.
Den Rebellen ist
die Frustration immer deutlicher anzumerken. Sie waren im Umgang mit
Gefangenen nie zimperlich. Nach ihrem Einmarsch in Aleppo folterten sie
systematisch Gefangene. Viele wurden auf dem Hof einer ehemaligen Schule
hingerichtet. Dort konnte man täglich sehen, wie die Einschusslöcher an
der Schulhofmauer immer zahlreicher wurden. Einige Monate später
erzählte ein Kommandeur, dass man keine Gefangenen mehr mache.
Das Töten ist normal geworden
Erst kürzlich
habe man die Soldaten an einem eroberten Checkpoint erschossen.
"Fünfunddreißig! In den Kopf!", sagte er prahlerisch zu seinem
Kameraden, in dem Glauben, der Reporter aus Deutschland verstehe kein
Arabisch. Er wollte nicht zeigen, wie normal das Töten für ihn geworden
war. Die Abwertung menschlichen Lebens bestimmt den Krieg schon lange.
Aber das Video Kusair ist etwas anderes.
Der Kommandant
aus der geschmacklosen Aufnahme nennt sich Abu Sakkar, heißt jedoch in
Wirklichkeit Khalid al-Hamad. Er ist einer der Gründer der
Faruk-Brigaden, die mit 15.000 Mann eine der stärksten Rebellentruppen
sind. Im Oktober letzten Jahres baute er seine Truppe auf und kämpft
seitdem auf eigene Rechnung in der Gegend von Kusair.
Der Kommandant hat in einem Skype-Gespräch mit Journalisten des US-Magazins "Time" die Tat offen zugegeben und sie auch zu rechtfertigen
versucht: "Auf dem Handy des Soldaten fanden wir ein Video von einer
Mutter und ihren beiden Töchtern. Beide waren nackt, man hat sie
gedemütigt und ihnen einen Stock da und dort hineingeschoben." Hamad gab
weiter zu, noch ein anderes Video gedreht zu haben, in dem er ein
Mitglied der Schabiha, der berüchtigten Regierungsmiliz, in "große und
kleine Stücke" zersäge. Es sei doch völlig normal, dass beide
Kriegsparteien solche Videos veröffentlichten – um sich gegenseitig
abzuschrecken.
Angst wird zur Waffe beider Seiten
Das ist die
uralte Logik der Brutalität, die sich durch die digitalen Medien
exponentiell beschleunigt hat: Je länger der Kampf dauert, je mehr er
zum Durchhaltekrieg wird, desto mehr wird die Angst zur eigentlichen
Waffe beider Seiten. Doch weil alle zunehmend abstumpfen, müssen die
Angstreize immer stärker werden, mit die Feinde einander bedrängen.
Erhöht werden sie noch durch den religiösen Überbau des Kampfes, der
jede Frage von Tod und Leben in den Feuerschein einer Apokalypse taucht
und dadurch, das die Eskalation auf einem hohen Niveau begann.
Brutalität kennzeichnet dieses Land schon lange. Seit Generationen ist
Syrien buchstäblich eine Gewaltherrschaft.
Al-Hamad gibt
dem Regime und dessen Gräueltaten die Schuld. Assads Foltersystem habe
aus ihm gemacht, was er heute sei. "Ihr seht nicht, was wir sehen, ihr
erlebt nicht, was wir erleben. Was ist aus meinen Brüdern, meinen
Freunden, den Mädchen aus meinem Wohnviertel geworden, die vergewaltigt
wurden?" Al-Hamad spricht von der Belagerung des Stadtteils Baba Amr in
Homs durch die syrische Armee. Sie dauerte von Februar bis Mai 2012, und
das gesamte Viertel wurde dabei in Schutt und Asche gelegt. Hunderte
von Zivilisten und Kämpfern kamen ums Leben.
Auge um Auge, Zahn um Zahn
Der Kommandeur
will mit seinem Rachefeldzug nicht aufhören. Nach dem Massaker in der
Nähe von Baniyas, bei dem bis zu 800 Sunniten von Regimemilizen Anfang
Mai hingeschlachtet worden sein sollen, schwor al-Hamad: "Unser Prinzip
lautet Auge um Auge, Zahn um Zahn."
In seiner
rigorosen Brutalität mag der Kommandant der Faruk-Brigaden ein
Einzelfall sein. Aber sein Gut-und-Böse-Schema ist gefährlich, und viele
andere Rebellenkämpfer haben das längst verinnerlicht. "Wir freuen uns
schon, wenn wir die Alawiten-Gebiete in Latakia und Tartous erobern",
sagen viele Rebellen wenn sie über ihren Kampf gegen die einstige
Elite-Minderheit reden, zu der Assad gehört. Und dabei fahren sie sich
mit der Handkante quer über den Hals. Der Krieg, das Blut, die Leichen
lassen die Menschen abstumpfen.
Vielleicht kann
man nur so zwei Jahre Bürgerkrieg durchstehen, in dem man jeden Tag
mehrmals dem Tode um Haaresbreite entrinnt. Auch auf der anderen Seite,
bei der syrischen Armee, gibt es die gleiche Entwicklung. Dort freut man
sich über die Fotos des Armeefotografen, die eine Reihe von toten
Rebellen zeigen. Schließlich seien das "Terroristen". Natürlich haben
auch die Soldaten Handys erbeutet, auf denen Videos zu sehen sind, in
denen ihre Kameraden misshandelt oder getötet werden.
Auch auf Zivilisten zielen sie
Wer Zivilist
ist oder nicht, spielt im Bürgerkrieg längst keine große Rolle mehr –
weder für das Regime, noch auf Seiten der Rebellen. Die
Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch
macht al-Hamad unter anderem für den Tod eines 30-jährigen Mannes und
eines 13-jährigen Jungen verantwortlich. Sie wurden beim Beschuss von
schiitischen Dörfern im Bekaa-Tal getötet, den er befohlen haben soll.
Es war eine Vergeltungsaktion auf Angriffe der schiitischen
Hisbollah-Miliz, die auf Seiten Assads kämpft. "Wenn wir müssen, zielen
wir auch auf Zivilisten", sagte Hamad. "Unsere Zivilisten sind nicht
weniger wertvoll als die anderen." Ein Statement, das jeder
Rebellenkämpfer unterschreiben würde. Gerade im Zusammenhang mit der
Hisbollah, die ihnen allen besonders verhasst ist.
Die Truppe aus
dem Libanon hat vor Wochen in die Kämpfe um Kusair eingegriffen. Sie hat
der syrischen Armee bisher ungekannte Erfolge gebracht. Eine
gefährliche Entwicklung, die al-Hamad und seinen Gefolgsleuten noch mehr
Gründe liefert, brutaler und rigoroser gegen Armee und Zivilisten
vorzugehen. Die Situation könnte sich hochschaukeln, wechselseitige
Vergeltungsanschläge provozieren und einen Krieg der muslimischen
Konfessionen auslösen.
Trotz Erklärungen passiert nichts
In Damaskus
wurde am 2. Mai das Grab des großen schiitischen Geistlichen Hudschr
Ibn-Adi geschändet. Die sunnitischen Täter sagten, es sei im Namen des
Islam geschehen. Von der Führung der Freien Syrischen Armee (FSA), die
sich gegenüber dem Westen als Führungskraft beweisen will, kam kaum eine
nennenswerte Reaktion. Doch das Kannibalen-Video wurde in einer
Erklärung missbilligt. Man werde den Urheber zur Rechenschaft ziehen.
Aber dies hat die FSA bisher jedes Mal bei Menschenrechtsverletzungen
behauptet, ohne dass wirklich etwas geschah. Die Führung der FSA hat im
Rebellengebiet wenig zu sagen, und das wenige will man sich nicht
verscherzen.
In anderen
Gegenden Syriens wird man sich ungläubig abwenden von dem schrecklichen
Video. In Dschebel al-Sauwia, in der Provinz von Idlib, oder in der
al-Ghrab-Ebene, unweit von Hama, ist konfessioneller Hass nicht
verbreitet. Hier leben Sunniten, Christen und Alawiten seit
Jahrhunderten friedlich zusammen. "Und so soll es auch bleiben", sagt
Abdelasis Nasrallah, der lokale Rebellenkommandeur der Kleinstadt Kalaat
al-Madiq. "Wir sind mit den Alawiten in ständigem Kontakt und Christen
kämpfen mit uns gemeinsam gegen Assad."
Und der Westen?
Der ist bis in diese Regionen noch nicht vorgedrungen. Dort könnte er
die Verbündeten finden, die er so unermüdlich sucht. Menschen, die
Wahlen, Demokratie und kein islamistisches Kalifat wollen. "Wenn ich nur
Waffen aus dem Westen bekäme", sagt Amjad, der Kommandeur der
christlichen Brigade. "Die blieben alle bei mir und gingen ganz bestimmt
nicht zu den Islamisten."
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