Kurdische Milizen haben die Seite gewechselt und kämpfen
jetzt gegen Diktator Assad, Frauen genauso wie Männer. Sie wollen
Freiheit aber keinen eigenen Staat. Ein Besuch mitten im
Kriegsgeschehen. Von meinem Kollegen Peter Steinbach
Die Räder drehen
durch. Selbst der Jeep tut sich schwer auf der steilen Piste, die ein
Regenschauer in tiefem Matsch ertränkt hat. Eile ist geboten, nichts wie
raus aus dem offenen Gelände. Schüsse und Mörserfeuer sind zu hören.
Nach Scheich Maksud kommt man nur auf Schleichwegen, will man nicht
direkt durch die Schusslinie von Scharfschützen der syrischen
Regierungstruppen fahren.
Endlich hat der
Jeep den Hügel geschafft. Nach wenigen Minuten fährt man im Schutz der
Häuserwände des größten kurdischen Stadtteils am nördlichen Rand
Aleppos. Er ist strategisch besonders bedeutend. Von hier aus kann man
die gesamte Industriemetropole überblicken und beschießen. Außerdem
bekommt man von hier aus die Kontrolle über wichtige Nachschubwege.
Das Stadtviertel
ist menschenleer. Wagen mit Kämpfern der Freien Syrischen Armee (FSA)
brausen unter "Gott ist groß"-Rufen durch die Straßen. Einige
Minitransporter kommen entgegen, beladen mit den Habseligkeiten der
letzten Flüchtlinge. Der Rest der rund 250.000 kurdischen Einwohner hat
das bisher ruhige Viertel verlassen, als Ende März der Bürgerkrieg hier
ankam.
Gemeinsamer Kampf gegen Regierungstruppen
Die Kurdische
Demokratische Union (YPG), die seit Beginn des Konflikts im Februar 2011
das Regime von Präsident Baschar al-Assad unterstützte, hat
überraschend die Seite gewechselt. Sie öffnete Scheich Maksud der FSA
und kämpft nun mit ihr gemeinsam gegen die Regierungstruppen. Bisher
kontrollieren diese etwa die Hälfte des Stadtteils. Im sich angrenzenden
Aschrafieh soll die Lage nicht anders sein.
Nach 15 Minuten
Fahrt erreicht man die Basis der FSA. Von Weitem erkennt man Duschkas
und andere schwere Maschinengewehre, die auf den Ladeflächen der
geparkten Pick-ups aufgebaut sind. Hier befinden sich die Stützpunkte
der Milizen Ghorabaa al-Scham, Ahrar Syria und Araba al-Scham. Rund 150
Kämpfer sind draußen auf den Beinen. Ein Regime-Scharfschütze hatte auf
sie geschossen. Von einer Seitenstraße aus überblickt er eine Kreuzung
und beschränkt die Bewegungsfreiheit der Rebellen auf zwei von einander
getrennte Teile.
Ein FSA-Kämpfer
feuert in die Richtung, in der er den Scharfschützen vermutet. Danach
wird vom Balkon im vierten Stock eines verlassenen Wohnhauses
zurückgefeuert. Ob man den Feind getroffen hat, weiß niemand. Die
Seitenstraße überqueren die Rebellen nur noch rennend. Wenig später geht
eine Mörsergranate nieder. Die Mehrzahl der Kämpfer eilt plötzlich an
die Front. "Die Schergen von Assad wollen vordringen", sagt einer von
ihnen. "Aber sie haben keine Chance", fügt er lachend hinzu, bevor er
losläuft.
Waffen aus den siebziger Jahren
Eine Gruppe von
Rebellen steht rätselnd über eine Panzerabwehrgranate gebeugt.
Vergeblich versuchen sie sich einen Reim auf die tschechische
Gebrauchsanweisung zu machen, die auf der Metallhülse aufgeklebt ist.
"Entfernen Sie zuerst die Plombe. Dann drehen Sie die Kammer und ziehen
Sie sie zur Verlängerung nach hinten."
Es ist eine alte
RPG-75, Baujahr 1975. Sie sieht aber nagelneu aus, als habe man sie zum
ersten Mal aus der Box genommen. Sie könnte Teil der Waffenlieferung
aus Kroatien sein. Zwischen November und Februar sollen 3000 Tonnen,
bezahlt von Saudi-Arabien, transportiert von türkischen und jordanischen
Flugzeugen unter logistischer Hilfe Großbritanniens, nach Syrien
geschmuggelt worden sein.
"Wir haben sie
von einer anderen Gruppe gekauft", sagt der Kämpfer, der für die
Panzerfaust zuständig ist. "Insgesamt acht Stück, für je 10.000 Dollar."
In diesem Fall ist die Waffenhilfe in die vom Westen gewünschten Hände
gekommen. Die Kämpfer gehören zu Ghorabaa al-Scham. Sie sind keine
Islamisten, sie wollen freie Wahlen und Demokratie. Andere Teile der
kroatischen Waffen landeten jedoch bei den Radikalen von Ahrar al-Scham
und der Nusra-Front, die zum Netzwerk von al-Qaida im Irak gehört.
Lauernde Scharfschützen an den Straßen
Obwohl die
Rebellen noch immer nicht sicher sind, wie die RPG-75 funktioniert, wird
sie mit an die 500 Meter nahe Front genommen. "Dort unten am Hügel
stehen zwei, drei Panzer", erklärt der Verantwortliche der Gruppe. "Da
kann man sie gut gebrauchen."
Zwei
Querstraßen weiter, die man ebenfalls aufgrund der lauernden
Scharfschützen nur im Rennen überqueren kann, befindet sich ein
Stützpunkt der kurdischen YPG. Die mehr als 100 kurdischen Kämpfer haben
ihr Hauptquartier in einem ehemaligen Friseursalon eingerichtet. Neben
den Spiegeln hängt ein Bild Abdullah Öcalans, des Führers der Kurdischen
Arbeiterpartei (PKK). Die Türkei fasste ihn 1999 in Nairobi. Seitdem
sitzt er in einem türkischen Gefängnis.
Einige der
Milizionäre machen gerade Pause vom Krieg. Es gibt Wurst aus der Dose,
Tomaten, Gurken und Tee. Unter ihnen sind zwei Mädchen: Chufna, 18, und
Amara, 19. Bei der arabischen FSA sind weibliche Kämpfer unvorstellbar.
Zumal ohne Kopftuch, wie die beiden Kurdinnen hier kämpfen.
"Wir sind
völlig gleichberechtigt", versichert Chufna. "Niemand belächelt uns."
Die umstehenden Männer der YPG nicken zustimmend. "Wir haben schon viele
getötet", sagt Amara. Ihr macht das nicht viel aus. "Wir verteidigen
uns nur", erklärt sie schulterzuckend. Die beiden Kämpferinnen gehören
seit einem Jahr zu einer Brigade, die sich ausschließlich aus Frauen
zusammensetzt. Etwa 700 seien es.
27-jährige kurdische Anführerin
Der Weg an die
Front dauert nur zehn Minuten. Über Hinterhöfe, durch eingeschlagene
Löcher in Wänden, durch Wohnungen, in denen völliges Durcheinander
herrscht. Matratzen, Wäsche, Kleidung und Möbel sind wild verstreut. Auf
einem Stapel liegt verlassen ein kleiner Teddybär. Im dritten Stock
einer Wohnung bringt Chufna ihr russisches PK-Maschinengewehr an einer
Tür in Position. Im Nebenraum legt sich auch Amara am Boden in Position.
Für die
nächsten Stunden werden sie hier Ausschau nach Scharfschützen und
möglichen Truppenbewegungen der syrischen Armee halten. Die beiden
Mädchen bekommen letzte Anweisungen von ihrer Kommandeurin Rocan, bevor
sie mit zwei weiteren Kämpfern allein gelassen werden. Die 27-jährige
Rocan kämpft seit ihrem 13. Lebensjahr für die PKK und war im Iran, Irak
und der Türkei. Ihre Befehle akzeptieren auch 40-jährige Männer ohne
Murren. Nun ist Rocan in Syrien im Einsatz. Arabisch spricht sie nicht.
Kein Wort.
Der Militärchef
der YPG-Miliz in Scheich Maksud will von der PKK nichts wissen.
Gemeinhin gilt die syrische YPG als Ableger der türkischen Organisation.
Aber: "Wir sind unabhängig", behauptet Khalid. "Unser Führer ist
PKK-Chef Öcalan, aber in Syrien bestehen spezifische Gegebenheiten, die
nur wir lokal lösen können."
Kurdische Syrer wollen Anerkennung
Die YPG ließ
sich mehr als zwei Jahre Zeit, bis sie sich im Bürgerkrieg auf die Seite
der Rebellen schlug. Das war nur zehn Tage nach der
Waffenstillstandserklärung Öcalans und der Einigung der Türkei mit der
PKK, ernsthafte Friedensverhandlungen zu führen. Der YPG-Brigadenführer
in Scheich Maksud bestreitet vehement, dass der Seitenwechsel der
syrischen Kurden etwas mit den Friedensverhandlungen in der Türkei zu
tun habe.
"Wir sprachen
mit der FSA, ob sie bereit sind, die kurdische Identität anzuerkennen",
erzählt Khalid. "Sie stimmten zu und garantierten, nach dem Fall Assads
die Details in einer Konferenz zu besprechen und einen Vertrag zu
schließen." Die YPG wolle keinen unabhängigen kurdischen Staat. "Wir
sind über weite Teile Syriens verstreut, da ist so etwas unrealistisch",
meint der 29-jährige Brigadenführer. "Ich bin ein kurdischer Syrer und
möchte nur mein normales Recht auf Arbeit, Bildung und einen Pass."
Dinge, die das Regime Assads den Kurden aberkannte. Die neue
Vereinbarung zwischen YPG und der FSA ist für ganz Syrien gültig. "Die
Übereinkunft gilt von Aleppo über Afrin bis Raqqa", versichert Khalid
und fügt ernst hinzu: "Wir müssen unser Volk beschützen."
Auf dem Rückweg
geht es wieder im Sprinttempo über zwei Scharfschützenstraßen. Das
zweifache Panzerdonnern ist zu hören: erst Abschuss, dann Einschlag.
Dazu das Wummern eines Mörsers in der Ferne. Den Abhang hinunter gerät
der Jeep im Matsch ins Schleudern und kommt dem Geländer eines
Abwasserkanals gefährlich nahe. Dann ist der Weg ins Zentrum von Aleppo
frei.
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