Boston, Kanada, Libyen – erleben wir eine neue Offensive
von al-Qaida? Zumindest passen die Aktionen in deren Strategie Von Alfred Hackensberger
Auch eine
Terrororganisation kann ihr Informationsmanagement verbessern. Denn auch
wenn sich Attentäter meist erst nach einem Anschlag dazu bekennen, hat
al-Qaida schon im Januar auf der Internetseite von Ansar al-Mudschahedin
das Terrorprogramm der nächsten Monate und Jahre vorgelegt. Unter der
Überschrift "Wo schlägt al-Qaida als Nächstes zu?" werden "harte,
weltbewegende, schockierende und Angst verbreitende Anschläge"
versprochen. "Mit Gottes Hilfe schlagen wir im Herzen des Unglaubens
zu." Als Ziele werden die USA, Dänemark und Frankreich
genannt, sowie alle Länder, die sich in irgendeiner Form an der
französischen Intervention in Mali beteiligten. "Und andere Orte und
Länder, die von al-Qaida zu gegebener Zeit benannt werden." Eine erste
bittere Geschmacksprobe der neuen Offensive könnte der Anschlag von
Boston gewesen sein.
Obwohl noch nicht geklärt
ist, ob die beiden Attentäter Kontakte zu al-Qaida hatten, passt der
Anschlag in die Strategie der Terrorgruppe. Sie hat nicht nur Attentate
von Gruppen, sondern dezidiert "Aktionen einsamer Wölfe" angekündigt.
Das sind Leute, die sich einer radikalen Interpretation des Islams
verbunden fühlen und endlich einmal Schicksal spielen wollen. Al-Qaida
richtet sich mit seinem Internetmagazin "Inspire" gezielt an diesen
Typus von Einzeltäter. Die aufwendig gestaltete Publikation, die online
erscheint und als Hochglanzmagazin ausgedruckt werden kann, liefert
mittlerweile in der 10. Ausgabe Terroranleitungen. In der neusten
Ausgabe geben Terrorexperten Anweisungen, wie man voll besetzte
Parkplätze von Einkaufszentren umfassend in Brand steckt und in die Luft
jagt. Beim Handwerkszeug eines echten Terroristen darf auch die
gelungene "Provokation von Autounfällen" nicht fehlen. Man solle
möglichst nach einer Kurve die Straße mit etwa 40 Liter Schmieröl
("Speiseöl ginge auch") präparieren. "Ein schlitterndes Auto muss nicht
unbedingt mit einem anderen Objekt kollidieren", schreibt der Verfasser.
"Sobald der schlitternde Wagen von der öligen auf trockene Oberfläche
kommt, erfolgt eine erhebliche Abbremsung, die ausreicht, dass sich das
Fahrzeug überschlägt oder zumindest Steuerungs- und Stabilitätsprobleme
erzeugt."
Beim Attentat in
Boston sind Schnellkochtöpfe zu Bomben umfunktioniert worden. Die
Anleitung dazu stammt aus dem Heft Nummer 1 von "Inspire". Die Brüder
Tamerlan und Dzhorkhar Tsarnaev sind nicht die Einzigen, die sich
offenbar vom Al-Qaida-Magazin inspirieren ließen. Bei der
pakistanischstämmigen Ruksana Begum wurden einige Magazinausgaben bei
ihrer Verhaftung im Dezember letzten Jahres gefunden. Ihre Brüder hatten
geplant, die Londoner Börse in die Luft zu jagen. Es ist ein
Wunschtraum von al-Qaida, möglichst viele solche Einzelkämpfer oder
Minizellen wie in Boston und London
zu kreieren, die auf eigene Faust Attentate begehen. Aus Mangel an
Terrortraining, Organisation und Erfahrung wählen diese sogenannte
weiche Ziele, also solche, die leicht zugänglich und
sicherheitstechnisch kaum oder gar nicht zu überwachen sind.
Massenspektakel, wie der Marathon in Boston und andere
Sportgroßveranstaltungen, bieten sich an. Für die Sicherheitsbehörden
ist das ein Horrorszenario. "Solche Anschläge zu verhindern ist beinahe
unmöglich", sagt ein ehemaliger CIA-Beamter, der ungenannt bleiben will.
"Besonders, wenn die Täter vorher nie aufgefallen sind. Wie soll man
sie entdecken, bevor die Bombe hochgeht?"
Nach den Kriegen
im Irak und Afghanistan rückt der Fokus von al-Qaida offenbar wieder in
die Großstädte des Westens: "Er ist das Zentrum der Ungläubigkeit, von
dem aus die Knechtung der Muslime orchestriert wird." Der geplante und
gescheiterte Anschlag auf Bahnlinien in Kanada fällt in die gleiche
Kategorie. Die beiden Beschuldigten wollten Züge entgleisen lassen.
Hunderte von Menschen wären getötet oder schwer verletzt worden. Der
Angriff auf öffentliche Infrastrukturen im Westen steht bei al-Qaida
ganz oben auf der Liste. Das beweist ein Dokument, das US-Spezialkräfte
nach der Liquidierung von Osama Bin Laden in dessen Haus im
pakistanischen Abbottabad fanden. Es ist ein 17-seitiger Brief, den
Junis al-Mauretani, ein führendes Mitglied des Terrornetzwerks, im März
2010 an den Chef geschrieben hatte. Darin werden Tunnels, Brücken,
Staudämme, Unterwasserpipelines und Internetverbindungskabel als neue
Ziele festgelegt. Al-Qaida-Mitglieder sollten sich Jobs bei Firmen
suchen, die Zugang zu den Zielen haben. Oder als Fahrer von
Öltransporten, mit denen man die Ziele treffen könne. Bin Laden mochte
den Plan offenbar und gab ihm oberste Priorität. Der Terrorchef
instruierte die beiden Al-Qaida-Ableger in Nordafrika und dem Jemen, das
Vorhaben zu unterstützen und mit al-Mauretani "aufs Beste zu
kooperieren".
Der
Briefschreiber wurde im August 2011 in Quetta verhaftet. Die
pakistanischen Behörden versicherten, al-Mauretani sei "von Bin Laden
persönlich beauftragt worden, Ziele von ökonomischer Bedeutung in
Europa, den USA und Australien
anzugreifen". Einige Leute, die der Chefplaner Bin Ladens rekrutiert
hatte und die in den Stammesgebieten Pakistans trainiert worden waren,
konnten noch vor ihrer Ausreise verhaftet werden.
Der 2008 in
Pakistan verhaftete Bryant Neal Vinas, ein Al-Qaida-Mitglied mit
US-Pass, versicherte in seiner Verhandlung, dass er für Mauretani eine
Skizze der Bahnlinien von Long Island erstellt habe. Für
Selbstmordattentate auf Züge habe er Weiße gesucht, die wie Vinas einen
westlichen Pass besitzen.
Durch die
Verhaftungen in Kanada weiß man: Der Plan des Mauretaniers ist noch
immer in den Köpfen von al-Qaida präsent. Es ist davon auszugehen, dass
derzeit neue Einzeltäter oder organisierte Gruppen an Terroranschlägen
arbeiten, die auf den öffentlichen Raum oder die Infrastruktur zielen.
Es ist nur eine Frage der Zeit, wann, wie und wo sie zuschlagen. Der
Terror wird so schnell kein Ende finden.
Eine andere
Front im globalen Dschihad al-Qaidas ist Nordafrika. Am Dienstagmorgen
explodierte um sieben Uhr eine Autobombe vor der französischen Botschaft
in der Hauptstadt Tripolis. Die Druckwelle war im ganzen Stadtviertel
Hay Andalus zu spüren und ließ selbst in weiter Entfernung Fenster
bersten. Die Außenmauer des Geländes ist ein Trümmerhaufen, die Fassade
sowie der erste Stock wurden komplett zerstört. Die Büros sind
verwüstet. Autos, die in der Nähe der Botschaft parkten, sind kaum mehr
als Fahrzeuge zu erkennen. "Eine unvorstellbare Verwüstung", sagte Jean
Glavany. Der Parlamentsabgeordnete der Sozialistischen Partei ist Teil
einer französischen Delegation, die derzeit Libyen besucht. Zum
Zeitpunkt des Anschlags befand sich niemand in der Botschaft. Zwei
Wachen wurden zum Teil schwer verletzt.
Bisher übernahm
niemand die Verantwortung für das Terrorattentat. Die Annahme, dass
al-Qaida oder eine ihr nahestehende Gruppe der Urheber ist, scheint aber
naheliegend. In Libyen operieren gleich mehrere radikal-islamistische
Organisationen mit ähnlicher ideologischer Ausrichtung. Im Osten und
Süden des Landes soll es Trainingscamps geben, die unter der Führung von
al-Qaida im Islamischen Maghreb (Aqim) stehen. Aus einem dieser Lager
soll eine Gruppe von Attentätern stammen, welche die algerische
Gasanlage von Amenas überfielen. Aqim ist der nordafrikanische Ableger
der Terrororganisation, die nach dem Tod Bin Ladens unter der Leitung
von Aiman al-Sawahiri steht.
"Bekämpft eure
Feinde und die Feinde Gottes! Lasst es nicht zu, dass Säkulare und
andere Westler Amok laufen!" Mit dieser Botschaft hatte sich Aqim im
März an die muslimische Jugend Nordafrikas gewandt und zum Dschihad
gegen Frankreich aufgerufen. Es war das erste Statement der
Terrororganisation nach der französischen Militärintervention in Mali.
Die Islamisten hatten dort sechs Monate lang den Norden des Landes
besetzt. Im Januar begann die Offensive Frankreichs, in der die
Extremisten vertrieben wurden und Hunderte von ihnen ums Leben kamen.
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