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Terror mit Ankündigung

Boston, Kanada, Libyen – erleben wir eine neue Offensive von al-Qaida? Zumindest passen die Aktionen in deren Strategie Von
Auch eine Terrororganisation kann ihr Informationsmanagement verbessern. Denn auch wenn sich Attentäter meist erst nach einem Anschlag dazu bekennen, hat al-Qaida schon im Januar auf der Internetseite von Ansar al-Mudschahedin das Terrorprogramm der nächsten Monate und Jahre vorgelegt. Unter der Überschrift "Wo schlägt al-Qaida als Nächstes zu?" werden "harte, weltbewegende, schockierende und Angst verbreitende Anschläge" versprochen. "Mit Gottes Hilfe schlagen wir im Herzen des Unglaubens zu." Als Ziele werden die USA, Dänemark und Frankreich genannt, sowie alle Länder, die sich in irgendeiner Form an der französischen Intervention in Mali beteiligten. "Und andere Orte und Länder, die von al-Qaida zu gegebener Zeit benannt werden." Eine erste bittere Geschmacksprobe der neuen Offensive könnte der Anschlag von Boston gewesen sein.

Obwohl noch nicht geklärt ist, ob die beiden Attentäter Kontakte zu al-Qaida hatten, passt der Anschlag in die Strategie der Terrorgruppe. Sie hat nicht nur Attentate von Gruppen, sondern dezidiert "Aktionen einsamer Wölfe" angekündigt. Das sind Leute, die sich einer radikalen Interpretation des Islams verbunden fühlen und endlich einmal Schicksal spielen wollen. Al-Qaida richtet sich mit seinem Internetmagazin "Inspire" gezielt an diesen Typus von Einzeltäter. Die aufwendig gestaltete Publikation, die online erscheint und als Hochglanzmagazin ausgedruckt werden kann, liefert mittlerweile in der 10. Ausgabe Terroranleitungen. In der neusten Ausgabe geben Terrorexperten Anweisungen, wie man voll besetzte Parkplätze von Einkaufszentren umfassend in Brand steckt und in die Luft jagt. Beim Handwerkszeug eines echten Terroristen darf auch die gelungene "Provokation von Autounfällen" nicht fehlen. Man solle möglichst nach einer Kurve die Straße mit etwa 40 Liter Schmieröl ("Speiseöl ginge auch") präparieren. "Ein schlitterndes Auto muss nicht unbedingt mit einem anderen Objekt kollidieren", schreibt der Verfasser. "Sobald der schlitternde Wagen von der öligen auf trockene Oberfläche kommt, erfolgt eine erhebliche Abbremsung, die ausreicht, dass sich das Fahrzeug überschlägt oder zumindest Steuerungs- und Stabilitätsprobleme erzeugt."
Beim Attentat in Boston sind Schnellkochtöpfe zu Bomben umfunktioniert worden. Die Anleitung dazu stammt aus dem Heft Nummer 1 von "Inspire". Die Brüder Tamerlan und Dzhorkhar Tsarnaev sind nicht die Einzigen, die sich offenbar vom Al-Qaida-Magazin inspirieren ließen. Bei der pakistanischstämmigen Ruksana Begum wurden einige Magazinausgaben bei ihrer Verhaftung im Dezember letzten Jahres gefunden. Ihre Brüder hatten geplant, die Londoner Börse in die Luft zu jagen. Es ist ein Wunschtraum von al-Qaida, möglichst viele solche Einzelkämpfer oder Minizellen wie in Boston und London zu kreieren, die auf eigene Faust Attentate begehen. Aus Mangel an Terrortraining, Organisation und Erfahrung wählen diese sogenannte weiche Ziele, also solche, die leicht zugänglich und sicherheitstechnisch kaum oder gar nicht zu überwachen sind. Massenspektakel, wie der Marathon in Boston und andere Sportgroßveranstaltungen, bieten sich an. Für die Sicherheitsbehörden ist das ein Horrorszenario. "Solche Anschläge zu verhindern ist beinahe unmöglich", sagt ein ehemaliger CIA-Beamter, der ungenannt bleiben will. "Besonders, wenn die Täter vorher nie aufgefallen sind. Wie soll man sie entdecken, bevor die Bombe hochgeht?"
Nach den Kriegen im Irak und Afghanistan rückt der Fokus von al-Qaida offenbar wieder in die Großstädte des Westens: "Er ist das Zentrum der Ungläubigkeit, von dem aus die Knechtung der Muslime orchestriert wird." Der geplante und gescheiterte Anschlag auf Bahnlinien in Kanada fällt in die gleiche Kategorie. Die beiden Beschuldigten wollten Züge entgleisen lassen. Hunderte von Menschen wären getötet oder schwer verletzt worden. Der Angriff auf öffentliche Infrastrukturen im Westen steht bei al-Qaida ganz oben auf der Liste. Das beweist ein Dokument, das US-Spezialkräfte nach der Liquidierung von Osama Bin Laden in dessen Haus im pakistanischen Abbottabad fanden. Es ist ein 17-seitiger Brief, den Junis al-Mauretani, ein führendes Mitglied des Terrornetzwerks, im März 2010 an den Chef geschrieben hatte. Darin werden Tunnels, Brücken, Staudämme, Unterwasserpipelines und Internetverbindungskabel als neue Ziele festgelegt. Al-Qaida-Mitglieder sollten sich Jobs bei Firmen suchen, die Zugang zu den Zielen haben. Oder als Fahrer von Öltransporten, mit denen man die Ziele treffen könne. Bin Laden mochte den Plan offenbar und gab ihm oberste Priorität. Der Terrorchef instruierte die beiden Al-Qaida-Ableger in Nordafrika und dem Jemen, das Vorhaben zu unterstützen und mit al-Mauretani "aufs Beste zu kooperieren".
Der Briefschreiber wurde im August 2011 in Quetta verhaftet. Die pakistanischen Behörden versicherten, al-Mauretani sei "von Bin Laden persönlich beauftragt worden, Ziele von ökonomischer Bedeutung in Europa, den USA und Australien anzugreifen". Einige Leute, die der Chefplaner Bin Ladens rekrutiert hatte und die in den Stammesgebieten Pakistans trainiert worden waren, konnten noch vor ihrer Ausreise verhaftet werden.
Der 2008 in Pakistan verhaftete Bryant Neal Vinas, ein Al-Qaida-Mitglied mit US-Pass, versicherte in seiner Verhandlung, dass er für Mauretani eine Skizze der Bahnlinien von Long Island erstellt habe. Für Selbstmordattentate auf Züge habe er Weiße gesucht, die wie Vinas einen westlichen Pass besitzen.
Durch die Verhaftungen in Kanada weiß man: Der Plan des Mauretaniers ist noch immer in den Köpfen von al-Qaida präsent. Es ist davon auszugehen, dass derzeit neue Einzeltäter oder organisierte Gruppen an Terroranschlägen arbeiten, die auf den öffentlichen Raum oder die Infrastruktur zielen. Es ist nur eine Frage der Zeit, wann, wie und wo sie zuschlagen. Der Terror wird so schnell kein Ende finden.
Eine andere Front im globalen Dschihad al-Qaidas ist Nordafrika. Am Dienstagmorgen explodierte um sieben Uhr eine Autobombe vor der französischen Botschaft in der Hauptstadt Tripolis. Die Druckwelle war im ganzen Stadtviertel Hay Andalus zu spüren und ließ selbst in weiter Entfernung Fenster bersten. Die Außenmauer des Geländes ist ein Trümmerhaufen, die Fassade sowie der erste Stock wurden komplett zerstört. Die Büros sind verwüstet. Autos, die in der Nähe der Botschaft parkten, sind kaum mehr als Fahrzeuge zu erkennen. "Eine unvorstellbare Verwüstung", sagte Jean Glavany. Der Parlamentsabgeordnete der Sozialistischen Partei ist Teil einer französischen Delegation, die derzeit Libyen besucht. Zum Zeitpunkt des Anschlags befand sich niemand in der Botschaft. Zwei Wachen wurden zum Teil schwer verletzt.
Bisher übernahm niemand die Verantwortung für das Terrorattentat. Die Annahme, dass al-Qaida oder eine ihr nahestehende Gruppe der Urheber ist, scheint aber naheliegend. In Libyen operieren gleich mehrere radikal-islamistische Organisationen mit ähnlicher ideologischer Ausrichtung. Im Osten und Süden des Landes soll es Trainingscamps geben, die unter der Führung von al-Qaida im Islamischen Maghreb (Aqim) stehen. Aus einem dieser Lager soll eine Gruppe von Attentätern stammen, welche die algerische Gasanlage von Amenas überfielen. Aqim ist der nordafrikanische Ableger der Terrororganisation, die nach dem Tod Bin Ladens unter der Leitung von Aiman al-Sawahiri steht.
"Bekämpft eure Feinde und die Feinde Gottes! Lasst es nicht zu, dass Säkulare und andere Westler Amok laufen!" Mit dieser Botschaft hatte sich Aqim im März an die muslimische Jugend Nordafrikas gewandt und zum Dschihad gegen Frankreich aufgerufen. Es war das erste Statement der Terrororganisation nach der französischen Militärintervention in Mali. Die Islamisten hatten dort sechs Monate lang den Norden des Landes besetzt. Im Januar begann die Offensive Frankreichs, in der die Extremisten vertrieben wurden und Hunderte von ihnen ums Leben kamen.

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