Das Regime kündigt eine Großoffensive an, Kampfjets
überfliegen Aleppo. Doch die Rebellen bereiten sich auf ein Leben nach
Assad vor – mit der Scharia. Oder mit Wahlen? Eine Reportage von der
Front. Von meinem Kollegen Peter Steinbach
Wie einst Prophet
Mohammed trägt auch Ali schwarzen Kajal auf den Augenlidern. In der
Weste des jungen Rebellen der Freien Syrischen Armee stecken vier volle
Magazine. Mit beiden Händen hält er eine Kalaschnikow. Ali ist einer von
rund 50 Kämpfern der Amar-Obno-Hachtab-Brigade, die in einer kleinen
Fabrikhalle auf ihren Einsatzbefehl warten. "Wir werden gleich
losziehen", sagt der 22-Jährige entschlossen, "um eine andere Gruppe
abzulösen, die die ganze Nacht gekämpft hat."
Drei Pickups
brausen plötzlich vorbei, auf deren Ladeflächen sich Kämpfer drängen.
"Gott ist groß", schallt es mehrfach aus allen Kehlen. Die Gewehre
werden dabei begeistert in die Höhe gereckt. Als der kleine Konvoi um
die nächste Kurve verschwunden ist, erklärt Ali: "Sie sind gleich an der
Front." Er meint damit das nur zwei Kilometer entfernte Aziza.
Diese Kleinstadt
am Stadtrand von Aleppo und in unmittelbarer Nähe des Flughafens hatte
die syrische Armee in der Nacht zuvor von den Rebellen zurückerobert.
Die Soldaten eines Nachschubkonvois aus dem 80 Kilometer entfernten Hama
hatten diesen strategisch so wichtigen Ort überraschend eingenommen. In
Panik waren die Bewohner der umliegenden Dörfer aus ihren Häusern und
Wohnungen geflüchtet.
Es war ein
Vorstoß mit Vorankündigung. Das syrische Staatsfernsehen hatte eine
Großoffensive annonciert und das Regime Textnachrichten an die Rebellen
der Freien Syrischen Armee (FSA) verschickt: "Gebt auf oder die Armee
holt euch!" Es wollte beweisen, dass die Truppen von Präsident Baschar
Assad noch fähig und willig sind, die "Terroristen" an mehreren Fronten
gleichzeitig zu bekämpfen. Die Rebellen hatten in den letzten Monaten in
Aleppo und in der Umgebung der größten Stadt Syriens zahlreiche militärische Erfolge zu verzeichnen. Mehrere Kasernen und Flughäfen wurden im Norden des Landes erobert.
Loblied auf Osama Bin Laden
Außer der
Einnahme von Aziza ist von der versprochenen Großoffensive bisher nichts
zu spüren. Mehrere Kampfjets flogen wiederholt über Aleppo, ohne Bomben
oder Raketen abzuwerfen. Zuletzt waren bei einem Luftangriff auf zwei
Wohnhäuser im Stadtzentrum am vergangenen Wochenende über 20 Menschen
ums Leben gekommen.
"Es gibt keinen
Grund, besorgt zu sein", meint Aioub, ein junger Oppositionsaktivist.
"Aziza hat schon zweimal den Besitzer gewechselt und die FSA wird es mit
Sicherheit zurückholen." Von wegen Offensive, das sei alles nur
Propaganda eines untergehenden Regimes. "Und man darf nicht vergessen,
wir werden von al-Qaida beschützt", fügt er ironisch lachend hinzu.
Zum Beweis zeigt
er ein Video mit einem vielleicht fünfjährigen syrischen Kind auf den
Schultern seines Vaters, das zur Begeisterung seiner Zuhörer ein Loblied
auf Osama Bin Laden singt. Danach folgt ein libyscher Kämpfer mit
Turban und Säbel, der ankündigt, die Köpfe aller Antirevolutionäre
rollen zu lassen.
"Ich frage mich,
was all die ausländischen Extremisten bei uns zu suchen haben", sagt
Aioub verärgert. "Ich habe Libyer, Marokkaner, Tunesier, Pakistaner,
Leute aus dem Irak, Saudi-Arabien, ja selbst aus Tschetschenien gesehen.
Von den Europäern ganz zu schweigen."
Al-Nusra organisiert das zivile Leben
Die radikalen
Islamisten aus dem Ausland werden in Syrien hauptsächlich von drei
salafistischen Dschihad-Gruppen aufgenommen: Fajr Islam, Ahrar al-Sham
und der von den USA auf die Terrorliste gesetzten Jabhat al-Nusra.
"Diese Radikalen bekommen immer mehr die Oberhand", meint der 26-jährige
Aioub besorgt. Das sei alles nur die Schuld des Westens, der es
versäumt habe, rechtzeitig Waffen an die Opposition zu liefern.
Nach zwei
Jahren Bürgerkrieg, Bomben, Elend und dem Tod von Tausenden von
Zivilisten sei es doch kein Wunder, wenn die Dschihadisten mehr und mehr
Zulauf bekämen. "Am Anfang war Jabhat al-Nusra eine Gruppe von
vielleicht 10 Leuten, heute sind es 10.000."
Der Ableger von
al-Qaida aus dem Irak (Aqi) ist nicht die einzige radikale
Islamistengruppe, die großen Zuspruch erhält. Ahrar al-Sham hat sich
binnen eines Jahres zu einer der größten und einflussreichsten
Organisationen gemausert. Die freien Männer Syriens kooperieren intensiv
mit Jabhat al-Nusra.
"Sie sind
wirklich gute und mutige Kämpfer, immer in vorderster Linie zu finden",
sagt der Arzt Dr. al-Hadsch Osman. "Aber mein Problem gerade mit Jabhat
al-Nusra ist, dass sie überzeugt sind, alle Menschen in Syrien müssten
so wie sie denken. Sie wollen einen islamischen Staat wie im Iran unter
Ayatollah Chomeini errichten, nur in einer Version für Sunniten."
Dr. Osman war
von Jabhat al-Nusra verhaftet worden, nachdem er ihre Flagge in seinem
Krankenhaus abgenommen hatte. "Der Mann, der sie aufgehängt hatte,
behauptete, ich sei mit den Füßen auf ihrem Emblem, das das muslimische
Glaubensbekenntnis trägt, herumgetrampelt." Al-Nusra habe das als
Verunglimpfung des Islams empfunden. "Natürlich stimmte das nicht",
erklärt Dr. Osman, "aber ich wurde am nächsten Tag entlassen."
In Aleppo
besorgt al-Nusra Brot für die Bäckereien, repariert
Elektrizitätsleitungen, stellt Verkehrspolizisten, transportiert den
Müll ab und hat zahlreiche Industriebetriebe wiedereröffnet, um den
Stadtbewohnern Arbeit und Verdienst zu geben. "Sie versuchen das zivile
Leben zu organisieren", sagt Dr. Osman. "Das wird von den Menschen
einerseits begrüßt, aber letztendlich nur akzeptiert, weil sie die Macht
besitzen." Nach dem Fall Assads werde der Aufstieg der Radikalen ein
baldiges Ende finden. Das Phänomen al-Nusra sei nur ein Sturm im
Wasserglas, den der Krieg provoziert habe. "Die Menschen in Syrien
werden eine neue Diktatur nicht zulassen", versichert er mit festem
Blick und rückt dabei seine Brille zurecht. "Wir haben eine andere
Mentalität."
"Syrien wird ein islamischer Staat"
Unmittelbar
neben dem Hauptquartier von al-Nusra in Aleppo liegt das Gebäude des
Scharia-Rats. Hier wird islamisches Recht gesprochen. Mitglieder des vor
drei Monaten gegründeten Rates sind die Islamisten von Fajr Islam,
Ahrar al-Sham, Jabhat al-Nusra, die Muslimbrüder und die Liwa Tawhid,
die größte Rebellengruppe in Aleppo. Sie gilt als moderat islamistisch
und ist Teil der FSA, was die radikalen Salafistenorganisationen nicht
sein wollen.
"Es gibt nur
einen Gott und ein Recht", erläutert Abdulkader Saleh, der den Beinamen
Engländer trägt, da er einer der wenigen ist, die Englisch sprechen. Er
ist ein Mitglied des Scharia-Rats und ein Anhänger des Jabhat al-Nusra.
"Was kann daran schlecht sein, wenn die Leute angehalten werden, nicht
zu rauchen und zu trinken, ein gesundes und gottgefälliges Leben zu
führen?" Al-Nusra wolle jeden Menschen Kraft geben und ihn stärker
machen.
In Aleppo wurde
im Dezember letzten Jahres bereits ein neues Gericht ins Leben gerufen.
Dort sieht man die Scharia jedoch nicht als universales Werkzeug der
Rechtsprechung an. Man hält es mit dem Rechtskodex der Arabischen Liga,
gesundem Menschenverstand und Gesetzestexten des alten syrischen
Staates. "Das gefällt den Islamisten natürlich nicht", sagt ein Anwalt,
der unerkannt bleiben will.
In Zukunft soll
es nur mehr ein einziges Gericht geben. "Die Verhandlungen laufen",
versichert Saleh, der Engländer vom Scharia-Rat. "Es ist nicht einfach.
Wie soll das zusammen gehen? Es gibt nur Allah und sein göttliches
Gesetz." Er ist überzeugt, das bald in ganz Syrien ausnahmslos
islamisches Recht gesprochen wird. "Syrien wird ein islamischer Staat,
da besteht kein Zweifel." Alle Mitglieder des Scharia-Rates seien dafür,
auch die Liwa Tawhid. Jabhat al-Nusra sei die treibende Kraft und habe
die Oberhand. Nur göttliches Recht, keine Wahlen und kein Parlament nach
dem Sturz des Assad-Regimes? "Das weiß nur Allah alleine", meint Saleh,
lacht verschmitzt und verabschiedet sich mit einem Salam Aleikum.
"Das Volk muss frei abstimmen"
Ganz so sicher
scheint ein Gottesstaat in Syrien, wie ihn Saleh, der Engländer gerne
hätte, noch nicht zu sein. Im Hauptquartier der Liwa Tawhid gibt ihr
Führer Hadsch Marra ein klares Bekenntnis zu einer parlamentarischen
Demokratie in einem islamischen Staat ab. "Das syrische Volk muss
entscheiden", sagt Marra in seinem Büro im Keller des Hauptquartiers.
"Momentan haben wir noch andere Probleme. Wir haben Krieg." Sechsmal
wurde seine Basis bombardiert. "Auch jetzt kann jeden Augenblick eine
Rakete einschlagen", sagt er lachend und trinkt einen Schluck Tee.
Ob sein
Bekenntnis zur Demokratie ernst gemeint ist, muss sich erst noch
herausstellen. Die Liwa Tawhid tanzt auf allen Hochzeiten. Man scheint
abzuwarten, wer die Gewinner des Bürgerkriegs sein werden. Die Liwa
erkennen den eher säkularen Gerichtshof an, arbeiten mit der
Exil-Regierung der syrischen nationalen Allianz (SNC) in der Türkei
zusammen und gleichzeitig sehr eng mit Jabhat al-Nusra und anderen
radikalen Islamistengruppen. "Wir haben gegen niemanden etwas", erklärt
Hadsch Marra.
Eindeutige
Positionen findet man bei der Brigade Ghouraba al-Scham. "Das Volk muss
über seine Zukunft frei und unabhängig abstimmen", stellt ihr Führer Abu
Hammadu unmissverständlich fest. Sie lehnen eine Zusammenarbeit mit
Jabhat al-Nusra ab. "Wir wollen Islam, halten aber nichts von ihren
strengen Regeln. Man kann den Menschen nicht alles vorschreiben", sagt
Abu Hammadu. Man brauche Toleranz. Das sind Töne, die man im Aleppo
dieser Tage selten zu hören bekommt. "Ghouraba al-Scham versteht sich
als eine Vereinigung von Zivilisten, die das Regime bekämpft. Wir sind
eine Art Selbsthilfegruppe, die sofort die Waffen niederlegt, wenn der
Diktatur gestürzt ist", sagt Abu Hammadu.
Frankreich und
Großbritannien haben angekündigt, die Rebellen mit Waffen zu
unterstützen. Die Frage ist, wen man aus dem Sammelsurium der Hunderten
von Rebellengruppen beliefert. Dass die Wahl auf kleinere Gruppen wie
Ghouraba al-Scham fällt, ist zu bezweifeln. Obwohl sie zu den wenigen
gehören, bei denen man sicher sein könnte, dass die Waffen nicht wie
befürchtet in den Händen von Extremisten landen.
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